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Schreib ein schönes Lied!

Nachdenken über Filmmusik: Ein monumentaler Dokumentarfim über und für Ennio Morricone

Bloß nicht langweilen: Der späte Morricone dirigiert in seinem Arbeitszimmer in Rom.
Bloß nicht langweilen: Der späte Morricone dirigiert in seinem Arbeitszimmer in Rom.

Ennio Morricone war ein Revolutionär, der unter Minderwertigkeitskomplexen litt. Der Komponist war ungemein produktiv, glaubte aber bis ins hohe Alter, seine weltweiten Erfolge seien nicht viel wert – Musik für Filme, mehr nicht. Dabei hat er die Filmmusik als Genre überhaupt erst erschaffen und durchgesetzt. Warum? Weil er ein Genie war. Und zwar ein Genie, das Komposition studiert hatte. Diese eine Mundharmonika aus Sergio Leones »Spiel mir das Lied vom Tod« (1968) kennt jeder.

»Ein eigenartiger Mann. Und verrückt«, urteilte die Filmregisseurin Lina Wertmüller. »Er definierte die Musik«, glaubt Bruce Springsteen. Morricone selbst meint, Noten seien wie Baumaterial: »Die Ziegel sind immer die gleichen, aber die Gebäude sind verschieden.«

Ennio Morricone (1928–2020) mag schüchtern gewesen sein, aber war auch entschlossen, sich mit seiner Musik nicht zu langweilen, auch wenn er sie für über 500 Produktionen schrieb. Wie geht eigentlich Filmmusik? »Die Musik ist ein abstraktes Element, das der Film nicht unbedingt braucht, aber wenn man sie hören will, muss man ihr Freiheit lassen.«

Morricone wurde in den 60er Jahren bekannt, seitdem ist Filmmusik Komposition – vorher war Musik im Film nur Begleitung gewesen. Aber Goffredo Petrassi, sein Lehrer und Mentor am Konservatorium von Santa Secilla in Rom, hatte im Fernsehen erklärt, die Zusammenarbeit von Regisseur und Komponist sei »das Gegenteil von Kunst«. Und Morricone dachte, Petrassi sei der Purist und er selbst sei der Verräter der ernsten Musik.

Dazu muss man wissen, dass Petrassi selbst auch Musik für Filme geschrieben hatte, beispielsweise für »Bitterer Reis«, den Klassiker des Neorealismus von Giuseppe De Santis (1949), doch verglichen mit Morricones Arbeiten für die klassischen Italowestern von Sergio Leone in den 60ern, blieb die Musik mit den Szenen unverbunden. »Petrassi verstand nicht, was an Ennio so besonders war«, sagt der Komponist Boris Porena, »dass er sich in Situationen und Szenen einfühlen konnte, Petrassi konnte das nicht.«

Porena konnte das auch nicht und verstand Morricone erst Jahrzehnte später, als er 1984 »Es war einmal in Amerika« sah, den letzten Film von Leone, dessen Musik Morricone geschrieben hatte: »Die Musik geht nicht über die Dinge hinweg, sie erschafft sie«, erkannte Porena, der daraufhin einen Entschuldigungsbrief an Morricone schrieb. Der las ihn, stand auf und weinte.

Die Musik und die großen Gefühle sind Thema des Dokumentarfilms »Ennio Morricone – Der Maestro« von Guiseppe Tornatore. Der Titel zeigt schon an, dass hier ein Denkmal für Morricone, der stets an sich selbst zweifelte, errichtet wird. Es ist ein fast dreistündiges Monumentalwerk geworden, ein Hightech-Produkt mit massenweise Prominenz (Regisseure, Musiker und Komponisten verneigen sich) und vor allem mit den Originalfilmausschnitten, die Morricones musikalische Ideen verdeutlichen. Etwa die Melodie, die in »Für eine Handvoll Dollar« von Sergio Leone (1964) gepfiffen wird, wenn Clint Eastwood sich duelliert.

Außerdem hört man E-Gitarre, Peitschenknall, Flöten, Glocken und einen Amboss – »So etwas opernhaftes hatte noch nie jemand in einem Western gemacht«, meint Eastwood. Oder den Kojotenruf in Leones »Zwei glorreiche Halunken« (1966): »Dramatisch, aber lustig, das gefiel mir«, sagt Morricone. Oder das »Bach-Ding«, wie er sich ausdrückt, beim »Clan der Sizilianer« von Henri Verneuil (1969): Die wiederkehrende Melodie basiert auf den Noten B, A, C, und H: Bach, darüber legte er ein sizilianisches Thema. Entscheidend war der Einfluss seiner Ehefrau Maria, sie hörte als erste jedes neue Werk, wenn es ihr nicht gefiel, war es durchgefallen.

»Schreib ein schönes Lied!«, hatte sich Morricones Mutter von ihrem jungen Sohn gewünscht. Eigentlich wollte er Arzt werden. Doch sein Vater zwang ihn zum Trompetespielen, denn mit diesem Instrument verdiente er sein Geld in Marschkapellen. Und als er dazu nicht mehr in der Lage war, musste sein Sohn die Familie ernähren, also spielte der in Orchestern, bei Galas und in Revuen, während er Komposition studierte – und das, obwohl er Melodien hasste und die Trompete eigentlich auch.

Aber in seinem Studium ging ihm ein Licht auf: Er begriff die Bedeutung des Kontrapunkts als Technik, um in einem Satz mehrere Stimmen zu kombinieren, und zwar als gleichberechtigt nebeneinander. Und als er dann in den 50er Jahren die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik besuchte und hörte, wie John Cage mit zwei Noten und Geräuschen Musik machte, muss ihm diffus bewusst geworden sein, wie sich seine Musik künftig anhören könnte – Morricone machte das Arrangieren von Liedern und Themen zur neuen Kunst.

Nach den Ferienkursen gründete er mit anderen Komponisten die Gruppe Nuova Consonanza für improvisierte Musik. Sie wollten »traumatische Geräusche« erzeugen, und die verdammte Trompete sollte man als Instrument nicht mehr erkennen, sie klang dann wie eine Art Miauen. Dieser Wille zur Originalität machte ihn Anfang der 60er Jahre zu einem erfolgreichen Arrangeur und Komponisten von Popmusik im Dienst der Plattenfirma RCA. Er ließ Schreibmaschinen ertönen und Wasser blubbern, alles für den Rhythmus. Auf »Il Barattolo«, einer Single von von Gianni Meccia, ließ er 1963 Dosen klappern – eine Sensation. Für »Se Telefonando« (1966) von Mina benötigte er nur drei Noten, die er in jeder Strophe neu akzentuierte – eine wichtige Entdeckung für die Popmusik.

Über das Fernsehen kam Morricone zur Filmmusik, musste aber Jahre lange als »Sklave« komponieren, in den Filmen wurde er nie genannt. Der erste Film, in dem er im Abspann auftaucht, war 1961 »Il federale« von Luciano Salce. Eine Kriegskommödie, deren deutscher Verleihtitel auch für Morricones Kombi-Technik stehen könnte: »Zwei in einem Stiefel«.

Irgendwann verselbstständigte sich seine Musik vom filmischen Material. Je bekannter Morricone wurde, desto mehr sagte er den Regisseuren, welche Musik er zu ihren Bildern hören würde. Meistens waren sie einverstanden, auch wenn sie ganz andere Erwartungen hatten. Und oft waren sie auch völlig begeistert und summten und sangen vor der Kamera die Lieder nach, die er für ihre Filme geschrieben hatte. »Es war, als hätte er mit der Musik einen parallelen Film erschaffen«, sagt Bernardo Bertolucci über den Soundtrack zu seinem Film »1900« (1976). Und über die Melodie für »Spiel mir das Lied vom Tod« meint er: »Diese Musik hören wir für den Rest unseres Lebens.«

»Ennio Morricone – Der Maestro«, Italien/Belgien/Niederlande/Japan 2021. Regie: Giuseppe Tornatore. 156 Min. Bereits angelaufen.

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