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Erdoğans taktischer Schlag

Nach der Verurteilung des Istanbuler Bürgermeisters İmamoğlu suchen seine Partei CHP und das Oppositionsbündnis Millet İttifakı einen Umgang damit

  • Svenja Huck, Istanbul
  • Lesedauer: 4 Min.
Für die Oppositionsparteien in der Türkei gilt es nun die Frage zu klären, wer bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Sommer gegen Amtinshaber Recep Tayyip Erdoğan kandidiert.
Für die Oppositionsparteien in der Türkei gilt es nun die Frage zu klären, wer bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Sommer gegen Amtinshaber Recep Tayyip Erdoğan kandidiert.

Nicht ein-, sondern gleich zweimal gewann Ekrem İmamoğlu die Wahl zum Bürgermeister von Istanbul. Vor drei Jahren ging somit die Kontrolle über das Rathaus und das finanzielle Zentrum der Türkei nach mehr als 20 Jahren von der AKP zur größten Oppositionspartei CHP über. Vor wenigen Tagen verurteilte ein Istanbuler Gericht İmamoğlu zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten, da er Mitglieder der obersten Wahlbehörde als »Idioten« beleidigt haben soll. Beschimpfungen dieser Art sind eigentlich keine Seltenheiten in politischen Debatten. In diesem Fall steckt jedoch hinter dem Prozess mehr als die verletzte Ehre von Beamten, nämlich die Frage, wer im nächsten Jahr als Präsidentschaftskandidat der Opposition gegen Recep Tayyip Erdoğan zur Wahl antritt.

Das Oppositionsbündnis der Nation, Millet İttifakı, bestehend aus sechs Parteien, wird angeführt von der CHP und der İyi Parti. In den Umfragen zur Parlamentswahl liegt es Kopf an Kopf mit der Cumhur İttifakı, der Volksallianz zwischen AKP und MHP, aber einen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl hat die Opposition bisher noch nicht benannt. Der politischen Hierarchie zufolge hätte Kemal Kılıçdaroğlu, Vorsitzender der CHP, Anspruch auf diese Position. Die wachsende Beliebtheit der Bürgermeister von Istanbul und Ankara hingegen brachte auch İmamoğlu und Mansur Yavaş als potenzielle Kandidaten ins Spiel.

Politikwissenschaftler Alp Kayserilioğlu, der derzeit zu Hegemonie, Autoritarismus und Widerstand in der AKP-Ära an der Universität Tübingen promoviert und in Istanbul lebt, sieht in dem Gerichtsurteil gegen İmamoğlu eine klassische Taktik Erdoğans: »Erst einmal zuschlagen und dann schauen, wer wie auf den Schlag reagiert. Offensichtlich versucht Erdoğan gerade Zwist innerhalb des Oppositionsbündnisses zu sähen, indem er Kılıçdaroğlu einerseits, İmamoğlu und Akşener andererseits versucht gegeneinander auszuspielen.« Meral Akşener, Vorsitzende der İyi Parti, machte sich unmittelbar nach der Urteilsverkündung auf den Weg von Ankara nach Istanbul, um ihre Solidarität mit İmamoğlu auszudrücken. Kılıçdaroğlu hingegen befand sich zu dem Zeitpunkt auf einer dreitätigen Deutschlandreise. Diese brach er zwar umgehend ab, wurde aber dennoch für seine Abwesenheit kritisiert. Um Einigkeit innerhalb der CHP zu demonstrieren, lud Kılıçdaroğlu vergangene Woche İmamoğlu zur Fraktionssitzung der CHP nach Ankara ein.

»Die Opposition ist jetzt dazu gezwungen, einen Umgang mit der Gerichtsentscheidung zu finden. Dementsprechend wird auch Erdoğan weiter vorgehen«, sagt Kayserilioğlu. Gelinge es der Opposition, das erste Urteil umfangreich zu skandalisieren, könnte der Prozess auch mit einem Freispruch enden oder zumindest eingestellt werden. »Wird İmamoğlu jedoch als Kandidat gewählt, dann schwebt das finale Urteil des Verfahrens wie ein Damokles-Schwert über seiner Kandidatur.« Nicht zuletzt finden 2024 erneut Kommunalwahlen statt und eine Verurteilung könne auch genau dann stattfinden, damit die Opposition ihren stärksten Kandidaten für die Bürgermeisterwahl in Istanbul verliere. »Möglich ist also im Prinzip alles. Entscheiden wird der politische Kampf und das Risikokalkül der Akteur*innen«, sagt Kayserilioğlu gegenüber »nd«.

Erdoğan war selbst Bürgermeister von Istanbul, bevor er 2002 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Und auch Erdoğan wurde in einem Gerichtsverfahren schuldig gesprochen und musste 1999 für vier Monate in Haft. Kurz darauf gewann die AKP die Parlamentswahlen und konnte 13 Jahre in Alleinherrschaft regieren. Würde, ausgehend von diesem Beispiel, eine Verurteilung İmamoğlus der Opposition eventuell sogar mehr nützen als Schaden bringen? Obwohl man hier nicht von einem Automatismus ausgehen sollte, konnte die Opposition doch bisher zwei Erfolge für sich verzeichnen: Dem Aufruf İmamoğlus an die Istanbuler Bevölkerung, sich unmittelbar nach der Urteilsverkündung vor dem Rathaus in Saraçhane zu versammeln, kamen rund 60 000 Menschen nach. Nicht alle davon waren CHP-Wähler*innen, jedoch durchaus bereit, einen demokratisch gewählten Bürgermeister zu verteidigen. Hinzu kommt, dass führende Politiker aus dem Bündnis für Arbeit und Freiheit, an dem neben der HDP auch die Arbeiterpartei der Türkei (TIP) beteiligt ist, İmamoğlu im Rathaus besuchten. Das dritte, linke Wahlbündnis hat bisher noch keine offizielle Strategie beschlossen, wie es sich gegenüber einem Präsidentschaftskandidaten der CHP verhalten wird. Der öffentliche Druck auf dieses Bündnis, sich nun hinter die führende Oppositionspartei CHP zu stellen, statt eine unabhängige Linie zu verfolgen, wurde durch das Urteil noch einmal erhöht.

Nicht nur İmamoğlus Anwälte, sondern auch die Staatsanwaltschaft haben bereits Berufung gegen das Urteil eingelegt. »Solche Prozesse können bis zu anderthalb Jahren dauern, jedoch hat das Berufungsgericht das Recht, bestimmte Dossiers vorzuziehen, wenn eine Dringlichkeit gegeben ist«, erklärt Kayserilioğlu. Juristisch betrachtet sei eine rechtskräftige Verurteilung noch vor den Wahlen möglich. »Da der Prozess aber ein durch und durch politischer ist, werden die politischen Entwicklungen und Kalküle entscheiden, wann der rechtskräftige Abschluss des Verfahrens stattfindet und ob es zu einer Verurteilung kommen wird.«

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