nd-aktuell.de / 27.12.2022 / Kultur / Seite 1

Ein guter Jahrgang

Die deutsche Science-Fiction-Literatur wartete im Jahr 2022 mit einer Reihe faszinierender Romane auf

Florian Schmid
Libellen, wenn sie nur groß genug sind, attackieren wahllos alle Lebewesen, die sie überwältigen können. Sind wir die nächsten?
Libellen, wenn sie nur groß genug sind, attackieren wahllos alle Lebewesen, die sie überwältigen können. Sind wir die nächsten?

Die meisten Science-Fiction-Erzählungen, mit denen wir uns im Film oder in Buchform beschäftigen, kommen nach wie vor aus Großbritannien oder aus den USA. Wobei es auch eine stark ausgeprägte SF-Tradition in Osteuropa von Stanislaw Lem bis Iwan Jefremow gibt und in Afrika und in Lateinamerika schon seit Jahren für das Genre viel substanziell wichtige Literatur produziert wird. Aber auch in Deutschland gibt es immer mehr Science-Fiction-Literatur, wenngleich das Land nicht gerade als Hotspot des Genres gilt.

Seit einigen Jahren ist aber im Literaturbereich insgesamt der Trend zu beobachten, dass viele Gegenwartsschriftsteller*innen – und das auch hierzulande – sich des popkulturell lange als randständig verschrienen Genres bedienen. Unter anderem veröffentlichte Büchner-Preisträger Reinhard Jirgl schon 2013 mit »Nichts von Euch auf Erden« einen Mars-Roman. Aber auch junge Schriftsteller*innen nutzen vermehrt das Genre, und 2022 kam hierzulande gleich eine ganze Reihe bemerkenswerter Science-Fiction-Romane heraus.

Theresia Enzensberger, die Tochter des gerade verstorbenen Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger[1], legte mit »Auf See« einen in einer nahen Zukunft angesiedelten Science-Fiction-Roman vor, der sich auf faszinierende Weise mit dem Thema Utopie versus Dystopie beschäftigt. »Auf See« spielt in einer vermeintlich wahr gewordenen Utopie. Die künstliche Insel-Siedlung Seestatt vor der Ostseeküste gilt als einer der letzten Zufluchtsorte in einer ökologisch havarierten Welt.

Die 17-jährige Yada lebt mit ihrem Vater in der selbstverwalteten Gemeinschaft, in der das Meer erforscht wird, im Alltag aber Mangel herrscht. Gegessen wird lokal angebautes Soja, regelmäßig fällt der Strom aus und an der reparaturbedürftigen künstlichen Insel wird ständig herumgeflickt. Parallel dazu wird die Jahre zurückliegende Geschichte von Yadas Mutter Helena erzählt, die als Künstlerin im Zuge ihrer Performance-Art eine Sekte gründete, um deren Mitglieder zu porträtieren. Als vermeintliches Orakel machte sie außerdem Vorhersagen, und als einige davon zufälligerweise eintraten, unter anderem dichter Schneeschauer im Juni, wurden Boulevardblätter auf sie aufmerksam und im Netz sammelte sich bald eine Gemeinde, die jedes ihrer Worte für bare Münze nahm.

»Auf See« beginnt als flott und einfühlsam geschriebener Coming-of-Age-Roman mit vorsichtig eingestreuten Science-Fiction-Elementen und wird plötzlich mit fortlaufender Handlung zu einer komplexen dystopischen Erzählung, in die auch kurze Texte eingestreut werden, die von verschiedenen, vermeintlich utopischen Gemeinschaften im Meer erzählen. Das reicht von »New Atlantis«, einem künstlichen Inselstaat vor Jamaika, den Ernest Hemingways Bruder Leicester in den 1960ern gründete, über die Piratenrepublik »Libertalia«, die als Ausdruck frühneuzeitlicher Piratensolidarität gilt, bis hin zu Ron Hubbards Gründung der Scientology-Sekte, die einige Jahre lang auf einem Schiff unterwegs war, bevor sie in Florida ihr Hauptquartier einrichtete.

Damit entsteht ein ganzer Textkorpus sich aufeinander beziehender Erzählungen angeblich utopischer Gemeinschaften, was sie versprechen und wie diese Idee auch missbraucht wurde und wird. Yada entflieht schließlich der vermeintlichen Utopie und landet in einer besetzten Zeltstadt im Berliner Tiergarten, der von der Klimakrise stark gezeichnet ist und kämpft dort für ihre eigene utopische Gemeinschaft selbstverwalteter Commons.

Etwas weniger Aufmerksamkeit von Seiten der Literaturkritik erhielt Joshua Groß, der immer noch als Geheimtipp der deutschen Gegenwartsliteratur gehandelt wird, für seinen außergewöhnlichen Roman »Prana Extrem«. Der spielt im Innsbrucker Hinterland, wo der Ich-Erzähler namens Joshua zusammen mit seiner Freundin Lisa bei einigen Nachwuchs-Skispringern unterkommt und mit diesen den Sommer verbringt.

»Prana Extrem« ist im strengen Sinn keine Science-Fiction-Erzählung, die 300 Seiten Prosa zeigen aber recht eindrücklich, wie durchlässig literarische Genregrenzen sein können. »Prana Extrem« ist eher ein Pop-Roman, der von einer Gruppe junger Menschen erzählt, die mit den zum Teil äußerst skurrilen Herausforderungen ihres Alltags zu kämpfen haben. Das reicht vom Skispringen auf Sommerschanzen als Leistungssport über das Schreiben von Gegenwartsliteratur und Fan-Fiction, dem Herumfahren mit einem SUV, während dröhnende Hip-Hop-Musik läuft, bis hin zum Feiern cooler Partys irgendwo draußen und dem solidarischen Verhältnis Joshuas zur globetrottenden Oma, die gerade Witwe wurde und im österreichischen Outback auftaucht, um dort im Luxushotel zu residieren. Nur schwirren durch das Innsbrucker Hinterland, in dem es langsam immer heißer und tropischer wird, jede Menge riesenhafte und stets größer werdende Libellen herum. »Die Atmosphäre war mystisch und die Distanzen verklärten sich. Es war, als wäre da ein Raunen, in dem sich die potenzielle Selbstverständlichkeit einer anderen Welt ankündigte.«

Die Realität ist in »Prana Extrem« wie einer der Chupa-Chups-Lollies, die Joshua fortwährend lutscht; süß, klebrig und ziemlich bunt. Ein wenig liest sich das Buch wie ein überraschend weicher, warmer LSD-Trip. Kein Wunder, dass Joshua nebenbei immer wieder mit Antimaterie jongliert, wie er erklärt. Außerdem widmet er sich intensiv dem Werk, dem Leben und Sterben einer Science-Fiction-Autorin namens Gertrude Rhoxus, die auch gut ein Alter Ego von Ursula LeGuin, der 2018 verstorbenen Grand Dame der linken feministischen amerikanischen SF-Literatur, sein könnte.

Und dann wird Joshua, der sich für Außerirdisches interessiert, zum Geburtstag von seinen Freunden auch noch ein aus einem Museum gestohlener Meteorit geschenkt. Diese wundersame, sich in unsere Realität verblüffend einpassende fantastische Geschichte zieht sich über einen Sommer lang hin, bis Joshua irgendwann nach Braunschweig zieht und dort ganz am Ende in einer Lagerhalle für Dinosaurierausstellungen bekifft herumsitzt und eine riesenhafte Libelle auf sich zukommen sieht.

Eine noch weitaus radikalere Verfremdung der Wirklichkeit findet in Rudi Nuss’ großartigem Roman »Die Realität kommt« statt. Auf knapp 250 Seiten wird die Geschichte von Conny erzählt, die in einer postapokalyptischen Welt voller Schrott und sich verändernder biologischer Organismen lebt.

Die Menschen in dieser Zukunft oder Parallelwelt tauchen in einen virtuellen Raum namens Avalon ein, der aber schadhaft geworden ist und voller Bugs steckt. »Seitdem Avalon nicht mehr gewartet wurde, ragten die Daten, Avatare, ganze Landschaften in die erste Realität. Keiner wusste so recht, wo Avalon begann und endete und wo überhaupt die Server standen, die all die Inseln berechneten. Ebenso wusste niemand, wo die erste Realität anfing und endete, das gehörte eben zum Universum, diese Unbegrenztheit.«

In der virtuellen Realität trifft die oder der genderfluide Conny ihren oder seinen Lover Marlo, der in der digitalen Welt ein riesiger Vogel ist. Absolut faszinierend ist das World-Building in Rudi Nuss’ Roman, in dem unter anderem ein an einem Kühlschrank erstickter Blauwal am Ufer verseuchter Gewässer vor sich hin modert und in der Virtualität voller gigantischer Kaufhäuser, tropischer Strände und wilder Verfolgungsjagden unter anderem mit metallisch schimmernden Kojoten der Titel gebenden Realität keine Grenzen gesetzt sind. Eine autoritäre Bewegung namens »Neue Immersion« sammelt derweil die durch die postapokalyptische Landschaft irrenden Menschen ein und lässt sie in tiefe Pools springen, in denen sie sich auflösen und in eine andere Wirklichkeit übergehen.

Connys Freunde, einer davon leidet an einer seltenen Krankheit, weswegen winzige Nanoquallen in seinem Blutkreislauf umherschwimmen, suchen aber nach einer Utopie VR mit dem Namen Arkadi 3, die irgendwo in Avalon versteckt sein soll. Die wurde ursprünglich in den 1960er Jahren in der Sowjetunion entwickelt und war die erste virtuelle Realität überhaupt.

Rudi Nuss liefert fast nebenbei pointiert erzählt eine ganze Entwicklungsgeschichte der virtuellen Technologien, die fast wie eine Analogie für das gute Leben wirken und natürlich im Sozialismus erfunden und vom Kapitalismus schlecht kopiert wurden. Nun sind Conny und deren Freunde unterwegs, um inmitten des Mülls einer untergehenden kapitalistischen Gesellschaft etwas zu finden, das sich wohl am ehesten als die verlorene Magie kommunistischen Begehrens bezeichnen ließe.

Bis diese Abenteuergeschichte plötzlich durch einen regelrechten Riss im erzählerischen Gefüge in eine andere Handlung übergeht, die in einem Turm in Alaska angesiedelt ist und wo wir wieder einige der Figuren von zuvor treffen. Rudi Nuss wartet mit keinen langweiligen Auflösungen auf, sondern lässt dem Geschehen in seiner queeren herrschaftskritischen Erzählung freien Lauf.

Dabei dürfte dieser Roman definitiv zum Besten gehören, was die deutschsprachige Science-Fiction derzeit zu bieten hat. Und wie die anderen beiden Romane von Theresia Enzensberger und Joshua Groß ist auch Rudi Nuss’ Buch ein sehr politisches Stück Literatur, das der kapitalistischen Realität mit fantastischen Mitteln zu Leibe rückt und eine spannend zu lesende, utopische Kritik an den bestehenden
Verhältnissen formuliert.

Theresia Enzensberger: Auf See. Hanser, 272 S., 24 €.
Joshua Groß: Prana Extrem. Matthes und Seitz, 301 S., 24 €.
Rudi Nuss: Die Realität kommt. Diaphanes, 248 S., 22,50 €.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1168842.nachruf-auf-hans-magnus-enzensberger-souveraen-im-spiel.html?sstr=Hans|Magnus|Enzensberger