Unmenschliche Umstände

Im äußeren und inneren Kampf: Aufrüttelnde Erinnerungen an die Leningrader Blockade durch die Deutschen von Pawel Salzman

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 5 Min.
Als die Blockade 1941 begann, wurden in Leningrad solche Plakate aufgehängt: »Helden siegreich«. Und starben über eine Million Menschen.
Als die Blockade 1941 begann, wurden in Leningrad solche Plakate aufgehängt: »Helden siegreich«. Und starben über eine Million Menschen.

Die Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht dauerte 872 Tage, sie währte vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944. Die Stadt sollte ausgehungert werden. Der Hunger der Zivilbevölkerung war ein Hauptbestandteil der Strategie der faschistischen Kriegsführung. Im Ergebnis starben über eine Million Menschen. Russische Dichter wie Anna Achmatowa, Olga Bergholz, Gennadi Gor und Polina Barskova haben diese Tragödie in ergreifenden Bildern dargestellt. Lange Zeit aber galten auch für sie bestimmte Fakten als tabu, wie die Existenz des Schwarzmarkts, Plünderungen und Kannibalismus, die unterschiedlichen Brotrationen oder die Jagd des KGB auf »Defätisten«. Das erschütternde »Blockadetagebuch«, in dem Ales Adamowitsch und Daniil Granin seit 1974 Stimmen einfacher Leningrader einsammelten, konnte erst vierzig Jahre später unzensiert erscheinen. Auch der Beitrag Pawel Salzmans zu diesem Thema wurde mit großer Verzögerung bekannt.

Salzman (1912–1985) wurde im bessarabischen Kischinjow geboren. Sein Vater, Oberst der zaristischen Armee, war Russlanddeutscher, die Mutter eine russische Jüdin. Während des Bürgerkriegs musste die Familie häufig den Wohnort wechseln. Völlig verarmt ließ sie sich 1925 in Leningrad nieder, wo der künstlerisch begabte Vater als Buchhalter Arbeit fand. Pawel trat mit siebzehn Jahren der Gruppe »Meister der analytischen Kunst« des avantgardistischen Malers Pawel Filonow bei. Er war der einzige Ernährer der Familie. 1931 wurde er Szenenbildner im Studio von »Lenfilm«, wo er mit renommierten Regisseuren zusammenarbeitete.

Im ersten Blockadewinter verhungerte Salzmans Vater, ein Jahr darauf seine Mutter. Er hatte das Glück, im Juli 1942 mit seiner Frau Rosa und Tochter Lotta Leningrad über den gefrorenen Ladogasee zu verlassen und mit dem Zug Alma-Ata zu erreichen, wohin das Filmstudio »Lenfilm« bereits evakuiert worden war. Dadurch entging er der Deportation, die ihm als Deutschstämmigem gedroht hatte. 1944 wurde Salzman die gemeinsame Rückkehr mit »Lenfilm« nach Leningrad verwehrt. Erst nach Stalins Tod konnte er bei »Kasachfilm« erfolgreich als Szenenbildner arbeiten und als Grafiker Anerkennung finden. Er starb am 20. Dezember 1985 an den Folgen eines Herzinfarkts.

Ein Teil des bildkünstlerischen Œuvres von Salzman wurde zu seinen Lebzeiten ausgestellt. Seine Gedichte, Tagebücher, Erzählungen, zwei unvollendete Romane und ein Drama wurden jedoch für die Schublade geschrieben und erst nach seinem Tod entdeckt. Teile davon wurden zuerst in Israel und seit 2003 auch in Russland veröffentlicht. Salzmans literarische Werke stehen unter dem Einfluss der Oberiuten Daniil Charms und Alexander Wwedenski: In Deutschland wurde bisher nur sein Roman »Die Welpen« bekannt, der in über fünfzigjähriger Arbeit geschaffen wurde (aus dem Russischen von Christiane Körner. Matthes & Seitz 2016). Er erzählt in einer entfesselten Sprache und mit filmischen Mitteln aus tierischer Sicht von Gewalt, Terror, Hunger, Kälte und Unbehaustheit in einer absurden bürgerkriegsartigen Welt.

Salzmans fragmentarische »Erinnerungen an die Blockade« entstanden erst, nachdem er im kasachischen Alma-Ata zur Ruhe gekommen war. Zunächst wurde der Text offenbar hastig mit Bleistift niedergeschrieben, später mehrfach überschrieben und korrigiert. Dadurch entstanden kleinere Brüche und Wiederholungen. Am Ende bricht der Text unvermittelt ab. Er wurde erstmals im Maiheft 2012 der russischen Literaturzeitschrift »Snamja« veröffentlicht.

Schon die ersten Seiten der Erinnerungen zeigen einen Menschen, der seine deutsche Herkunft nicht verbergen kann. Immer wieder taucht das Wort »Ordnung« auf. Noch hat Hitler die Sowjetunion nicht überfallen. Salzman, gerade 28, räumt die feuchte, kalte und dunkle Kellerwohnung auf, in der er gemeinsam mit den Eltern, seiner Frau Rosa und der 1940 geborenen Tochter Lotta lebt, erst die Küche, dann die Toilette, danach das Wohnzimmer. Liebevoll ordnet er seine »Lieblingsbücher«: neben der Bibel Russen wie Gogol, Dostojewski und Majakowski, Klassiker der Weltliteratur wie Defoe, Swift, Poe, Cervantes und deutsche Autoren wie E. T. A. Hoffmann, Kleist (dessen Ritterschauspiel »Das Käthchen von Heilbronn« er übersetzt hat) und die Märchen von Wilhelm Hauff und den Brüdern Grimm. Ausdrücklich würdigt er das abendliche Vorlesen, das dazu führt, dass sich die ganze Familie in der Welt der Bücher wie zu Hause bewegt.

Im Sommer 1941 bricht der Krieg wie eine Urgewalt über die Leningrader herein. Salzman erfährt von Nachbarn, dass Minsk und andere belarussische Städte schon in Flammen stehen. Als Leningrad belagert wird, notiert er gewissenhaft, was er beobachtet: Überall sieht man Warteschlangen. Brot gibt es nur noch auf Marken. Dauernd erfolgt Luftalarm. Frauen und Halbwüchsige heben Schützengräben aus.

Den Salzmans machen die Bomben, die Kälte und der Hunger immer mehr zu schaffen. Den Autor plagen Schuldgefühle, weil er die Familie nicht mehr ernähren kann. Am 16. Dezember 1941 stirbt Salzmans Vater an Unterernährung. Der Totengräber verlangt Brot als Lohn. Salzman hat Angst, dass seine Tochter Kannibalen zum Opfer fällt.

Er möchte seine Arbeiterversorgung aus der Krankenstation für die Familie mit nach Hause nehmen. Eine Leiterin verbietet ihm das: Der Staat ernähre den, der für die Produktion gebraucht werde, nicht aber dessen Mutter, Frau oder Tochter. Wütend notiert Salzman: »Schrecklich war, dass die Leitungskanaille mir wirklich nicht erlaubte, die für mich bestimmte Nahrung mitzunehmen, ich war verpflichtet, sie am Tisch zu essen, das wurde sogar kontrolliert. Deshalb war ich gezwungen, sie zu stehlen.«

Pawel Salzmans Blockadenarrativ über die Zeit vom Mai 1941 bis zum Februar 1942 berührt uns durch die Offenheit und Ehrlichkeit, mit der der verzweifelte innere Kampf dargestellt wird, den viele Leningrader fast neunhundert Tage lang führten, um unter den unmenschlichen Umständen der deutschen Belagerung Mensch zu bleiben. Die sprachmächtige Übersetzung Christiane Körners, ihre Vorbemerkung »Jenseits der Menschlichkeit« sowie das exzellente Nachwort der russischen Dichterin und Literaturwissenschaftlerin Polina Barskova »Der Künstler und die Katastrophe«, das die innere Freiheit des Denkers und Zeitzeugen Salzman würdigt, machen diese Ausgabe zu einem Kleinod der Friedenauer Presse.

Pawel Salzman: Erinnerungen an die Blockade. Mai 1941–Februar 1942. Aus dem Russischen von Christiane Körner. Mit einem Nachwort von Polina Barskova. Friedenauer Presse 2022. 116 S., br., 18 €

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