nd-aktuell.de / 13.01.2023 / Kultur / Seite 1

Linke Kinderstube

Befreiungsschläge für den Geist: 50 Jahre »Sesamstraße« im deutschen Fernsehen

Christof Meueler
Ende der 70er Jahre begann die Restauration, mit faden Figuren wie Finchen, Tiffy und Samson
Ende der 70er Jahre begann die Restauration, mit faden Figuren wie Finchen, Tiffy und Samson

Vergangene Woche wurde die deutsche Ausgabe der »Sesamstraße« 50. Das Krümelmonster sprach sogar einen Kommentar in den »Tagesthemen« und er war auch recht lustig: Es ging nur um die Kekse, die es seitdem vertilgt hat. »Am Anfang der Folge vier, da habe ich einen Schokoladenkeks gegessen – der war lecker! Oder wer erinnert sich nicht an Folge 75, da gab es einen Lochkeks, mhm!« Die Idee der »Sesamstraße« war genial: durch Monster die Menschen besser verstehen zu lernen. Das bedeutete Aufklärung, Toleranz[1] und befreiendes Lachen – und linke Kinderstube. Selbstermächtigung war das neue Ding: »1000 tolle Sachen, die gibt es überall zu sehen / manchmal muss man fragen, um sie zu verstehen«.

Das war zuviel für den Bayerischen Rundfunk (BR): Als der NDR die Dauerserie, die 1969 in den USA erfunden worden war, in die dritten Programme der ARD holte, wurde sie vom BR boykottiert, da man in Bayern »kulturelle Überfremdung« fürchtete, durch »in der Sendung auftretende N****« – was für ein Wahnsinn. Und dass da ein Monster namens Oscar in der Mülltonne lebte, hielt man für »pädagogische Infamie«. Die »Sesamstraße« läuft erst seit 2003 in Bayern, nämlich im Kika – auch das ist kaum zu glauben.

Die »Sesamstraße« durchzieht auf beste Weise antiautoritär wirkender Witz, geboren in der Hippie- und 68er-Zeit, auch zu merken in den damals neuen Kindersendungen wie »Rappelkiste«[2], »Sendung mit der Maus« und »Kli-Kla-Klawitter«. Das waren Befreiungsschläge für den Geist, der die Gesellschaft umkrempeln wollte. Heute soll man sich nur noch selbst verändern, um sich der krisengeschüttelten Gesellschaft besser anzupassen. Dass das nicht so gut funktioniert, zeigte schon in den ersten Folgen der »Sesamstraße« Susanne Klickerklacker, die sich das »klügste Mädchen der Welt« nannte und an den einfachsten Dingen scheiterte – sehr lustig!

Im alten Intro schoss gleich zu Beginn ein Kind einen Ball ein Loch in eine Fensterscheibe und lief dann mit seinen Freunden einfach weg. Das war unerhört und der neue Stil der Rebellion. Die Restauration setzte Ende der 70er ein, als langweilige deutsche Schauspieler und fade Figuren (Samson, Tiffy und Finchen) die Sendung betraten. Das war nicht mehr so aufregend, sondern abstumpfend. Und kurze Zeit später begann schon der Neoliberalismus.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1101013.ernie-und-bert-beste-freunde.html?sstr=sesamstraße
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1152779.pink-floyd-schau-in-die-welt-nicht-in-den-himmel.html?sstr=rappelkiste