nd-aktuell.de / 22.01.2023 / Politik / Seite 1

Grenze zu Belarus bleibt tödlich

Ein junger Arzt stirbt im Grenzsumpf, doch polnische Behörden diskreditieren Helfende

Peggy Lohse
Polnische Grenzbeamte am 18. November2022 in Podlaskie
Polnische Grenzbeamte am 18. November2022 in Podlaskie

Am 7. Januar wurde im polnischen Wald nahe Białowieża, unweit der Grenze zu Belarus, ein Toter gefunden. Spürhunde entdeckten ihn, nachdem seine Begleitpersonen von polnischen Grenzschützern festgenommen worden waren und sein Verschwinden meldeten. Wenige Tage später konnten Aktivist*innen der Gruppe Hope&Humanity Poland die Begleitpersonen von Belarus aus ausfindig machen und mit ihnen die Identität des Toten aufklären: Der 24-jährige Ibrahim Dihiya war Arzt und vor dem Bürgerkrieg im Jemen geflohen. Über Ägypten, Russland, Belarus. Er habe bereits mehrere Pushbacks von polnischen Uniformierten erlebt, berichteten Aktivist*innen gegenüber polnischen Medien.

Auf Facebook berichteten Begleitpersonen des Toten vom Grenzsumpf: »Das Wasser war eisig, darin Stacheldraht, starke Strömung, das Flussbett schlammig. Wir blieben mehrmals stecken, überquerten den Fluss etwa vier Stunden lang. Einer hatte sich an den Drähten verletzt. Wir trugen ihn an Land: Er blutete an seinen Füßen. Polnische Soldaten sahen uns, wir baten sie um Hilfe, aber sie reagierten nicht auf uns. Nach zwei Stunden brachten sie uns zurück ins Niemandsland, ohne dem Verletzten zu helfen.«

Magdalena Łuczak von Grupa Granica (GG) und der Helsinki-Stiftung für Menschenrechte ist knapp zwei Wochen später in ständigem Kontakt mit dem Vater des Toten. Die Familie beantrage gerade ein Visum, um den Sohn zu sehen. »Aber bisher erhielten sie nicht einmal eine Einreisegenehmigung zur Identifizierung des Toten.« Handybilder aus dem Wald sollten ausreichen. Łuczak sagt: »Sein Vater schrieb vor Kurzem verzweifelt: Wir können nicht an seinen Tod glauben, solange wir ihn nicht gesehen haben!«

Seit Jahresbeginn erreichten die Hilfsinitiativen vor Ort weitere Todesmeldungen. Von fünf Fällen berichtet Grupa Granica in ihrem Kurzbericht zum 11. Januar. Am 12. Januar, so GG später, habe eine Armee-Patrouille erneut bei Białowieża zwei Leichen im Wald gefunden: Sie meldeten den Fund, kehrten zum Stützpunkt zurück, verirrten sich, fanden einen dritten Toten und verloren letztlich die Lokalisierung aller drei Fundorte. Bis zum Folgetag durchkämmten unzählige Uniformierte die Gegend, wie Aktivist*innen vor Ort erfahren konnten.

Das eisige Wetter sei lebensgefährlich, die Zahl der Vermisstmeldungen steige blitzartig, so die GG-Aktivist*innen. Wegen des stark gesicherten Grenzzauns auf polnischer Seite wichen die Flüchtenden oft auf Gewässer aus, versuchten, diese Flüsse und Sümpfe über dünnes Eis, mit instabilen Boten oder gar zu Fuß zu durchqueren. Immer wieder brächen Personen ein, erlitten Erfrierungen oder ertranken.

Obwohl der polnische Grenzschutz täglich online über Vorkommnisse an der Grenze zu Belarus berichtet, kommen die Todesfälle nicht vor. Bei Pushbacks heißt es: »Die Migranten zogen sich auf die belarussische Seite der Grenze zurück.« Lieber schmückt man sich medial mit »Rettungsmeldungen«, wie am 9. Januar: »Schwierige und unnötig langwierige Rettungsaktion: Drei afghanische Staatsangehörige waren in einem sumpfigen, schwer zugänglichen Gebiet gestrandet.«

Zunehmend diskreditiert und skandalisiert der Grenzschutz auch die Arbeit der Helfenden, indem sie ihnen die Schuld an den lebensgefährlichen Situationen gibt. Wie im Fall vom 9. Januar: »Alles ist gut gegangen, aber die Operation hätte schneller durchgeführt werden können, wenn die Personen, die den Vorfall gemeldet haben, bereit gewesen wären, mit dem Grenzschutz zusammenzuarbeiten.« Immer wieder behauptet der Grenzschutz, Aktivist*innen und Journalist*innen würden sich bewusst mit »illegalen Migranten« an den Grenzgewässern treffen, ohne die Sicherheitskräfte zu informieren und damit die Sicherheit und Gesundheit der Menschen riskieren.

Doch das Aufeinandertreffen mit Sicherheitskräften bedeutet für die Betroffenen eines von zwei Szenarien: illegaler Pushback[1] nach Belarus oder »Haft« mit Asylantrag über Monate in einem der sechs »bewachten Zentren für Ausländer«, gefängnisähnlichen Einrichtungen überall im Land. Wer es schafft, weiter zu fliehen, dem droht auch hier, beispielsweise in Deutschland, die Abschiebung zurück nach Polen. Die Zahl solcher Fälle steigt an, das melden regelmäßig die deutsche Bundespolizei als auch der polnische Grenzschutz.

Zum Tod von Dr. Ibrahim Dihiya twitterte der Grenzschutz nur: »6 Bürger aus Jemen überquerten illegal Grenzfluss #Przewłoka.«

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1170326.frontex-leere-versprechungen.html