nd-aktuell.de / 25.01.2023 / Kommentare / Seite 1

Vortreten, Auftreten, Nachtreten

Olivier David erklärt, warum Texte zum Thema Klasse nötig sind

Olivier David

Es gibt schlechtere Zeiten, um eine Kolumne zu beginnen. Darauf, dass es im Allgemeinen bessere Zeiten gibt, kann man sich sicher einigen. Der Sinn dieser Kolumne soll es sein, (gesellschafts-)politisches Geschehen durch die Brille der unteren Klasse zu bewerten. Der Name »Klassentreffen« ist Programm. Nicht in dem Sinne, wie man es gleich vor Augen hat: Timo und Tamara erzählen sich zehn Jahre nach dem Abitur, wie großartig ihre Karrieren so laufen. Es ist eher ein Treffen von denjenigen, die zu einem solchen Treffen nicht kommen würden, weil man mit Lebensläufen, die von Hartz IV, Pardon Bürgergeld, von prekärer Elternschaft und chronischen Krankheiten geprägt sind, besser nicht angibt in dieser Gesellschaft.

Das Treffen in »Klassentreffen« darf übrigens wörtlich verstanden werden. Von Zeit zu Zeit wird dieser Kolumnenplatz zum Ort, an dem ich mit Armutsbetroffenen, mit Armutsaktivist*innen und anderen Schreibenden in den Austausch gehen möchte – über die Stigmatisierung von armen Menschen, über Wut, Hilflosigkeit und Wege daraus.

Aber wer ist eigentlich dieses Ich? An dieser Stelle ein paar Sätze über mich: Ich bin 34 Jahre alt, komme aus Hamburg und bin in Armut aufgewachsen. Schulden, psychische Erkrankungen in der Familie, Aufwachsen bei einer alleinerziehenden Mutter – all das kenne ich. Meine 20er habe ich im Supermarkt, in Lagerhallen, auf Baustellen und in Cafés als Multijobber verbracht. Seit einiger Zeit bin ich Journalist und Autor. Ich arbeite frei, was bedeutet: Der Titel meines ersten Buches »Keine Aufstiegsgeschichte« ist hier Programm. Denn selbstständig tätig zu sein, bedeutet, dass einem die Existenzangst im Nacken sitzt.

Die Frage des Vortretens habe ich behandelt: die Kolumne als Ort, an dem Probleme und Lebenslagen aus der Unterklasse besprochen, beschrieben, skandalisiert werden. Die Frage des Auftretens ebenfalls: die Kolumne als Ort der Begegnung, als schreiberischer Raum der Selbstermächtigung, damit aus der Klasse an sich irgendwann eine Klasse für sich werden kann. Eine Klasse, die aus vielen Mündern artikuliert: So wie es bis jetzt war, so geht es nicht weiter.

Bleibt die Frage des Nachtretens: Das Jahr war noch keinen Tag alt, da machte der mediale Mob[1] aus Polizeigewerkschaft und bürgerlicher Presse aus den »Silvesterkrawallen« ein Rassismus-Problem[2]. Was das mit Klasse zu tun hat? Ganz einfach: Experten, die zum Thema Gewalt und Männlichkeit arbeiten, finden andere Gründe für die Ausschreitungen. Wenn man so will die soziale Dimension der Ausschreitungen: Dort, wo viele (männliche) Jugendliche und junge Erwachsene das Gefühl von Macht- und Chancenlosigkeit spüren, schlagen diese Erfahrungen in bestimmten Momenten in Gewalt um.

Nachtreten am Beispiel von Silvester bedeutet, dem rassistischen Framing, das sich durch die Medienberichte in den Köpfen vieler Menschen festgesetzt hat, Realität entgegenzusetzen. Es bedeutet zu dekonstruieren, wo platte und gefährliche Narrative entstehen. Und es bedeutet im Nachhinein einzuordnen: Nein, arme männliche Jugendliche und junge Erwachsene sind nicht per se gewalttätig. Aber es braucht sich auch niemand zu wundern, wenn es knallt.

Es ist eine Frage des Willens – und der Klasse –, sich mit den Lebensrealitäten der Menschen von unten auseinanderzusetzen. Neben dem Willen spielen auch Medien eine Rolle: Arm, das sind immer die anderen. Sie stehen in der Schlange von der Tafel, suchen nach Pfandflaschen, betteln. Dass beinahe jeder sechste Mensch in Deutschland in relativer Armut lebt und dass ein Großteil dieser Armut verdeckt ist, das sickert erst langsam durch. Diese Kolumne möchte dazu beitragen, diese öffentlichen Bilder von Armut zu entzerren.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1169996.silvesternacht-rechtes-zuendeln-nach-der-silvesternacht.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1169813.ausschreitungen-an-silvester-vergiftete-debatte.html