nd-aktuell.de / 25.01.2023 / Kultur / Seite 1

Ich erzähle, also bin ich

In den USA gibt es eine starke Kultur des Geschichtenerzählens. Anteil daran hat das Federal Writers’ Project aus den 1930er Jahren

Sara Rutkowski
USA: Ich erzähle, also bin ich

Das Federal Writers’ Project, kurz FWP, ist geradezu ein historisches Wunder, ebenso altmodisch wie die Reiseführer, die in seinem Kontext produziert wurden. Es handelt sich um ein New-Deal-Programm des damaligen US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt, der inmitten der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre über 6500 arbeitslose Amerikaner*innen aussandte, um Leute und Land zu dokumentieren. Der englische Dichter W. H. Auden nannte das Projekt »eine der edelsten und absurdesten Unternehmungen, die jemals von einem Staat unternommen wurden«. Absurd oder nicht, das FWP hat eine große Anzahl von Veröffentlichungen zu Folklore und Ethnografie hervorgebracht – ein Archiv, das Wissenschaftler*innen bis heute beforschen.

Gegenwärtig ist das FWP vor allem für die umfassende American Guide Series bekannt. Diese zielt zum einen darauf ab, amerikanische Städte, Straßen und Geschichte aufzuzeichnen. Zum anderen versammelt sie mündliche Zeugnisse von ehemals versklavten Menschen, also der letzten noch lebenden Generation von Amerikaner*innen, die in die Sklaverei hineingeboren worden waren. Aufmerksamkeit zogen auch die primären Quellenmaterialien des Projekts auf sich, aus denen seit 1939 verschiedentlich Auszüge veröffentlicht worden sind. Eine große Anzahl von FWP-Manuskripten ist dennoch bis heute nicht publiziert und in Archiven versteckt, etwa in der Library of Congress oder anderen über die USA verteilten Beständen. Die Lektüre dieser Dokumente gewährt Einblick in eine längst vergangene Art von zivilem Engagement sowie in die Verfasstheit der Gesellschaft, bevor diese durch kapitalistische Globalisierung und später die digitale Kultur noch tiefgreifender verändert wurde.

Pionier*innen der Geschichtsschreibung

Trotz ihres Anachronismus ermöglicht die Beschäftigung mit dem FWP nicht nur bedeutende Einblicke in die US-amerikanische Kultur, Politik und Identität, sondern auch in weltweite Probleme, mit denen wir gegenwärtig konfrontiert sind. Vom 21. Jahrhundert aus gesehen, mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus, wirtschaftlichen Katastrophen, der COVID-Pandemie und den tiefen Rissen und Ungleichheiten, die im Zuge all dieser Krisen offengelegt wurden, sind die Parallelen zu den 1930er Jahren kaum zu übersehen. Während das unmittelbare Ziel des FWP darin bestand, Menschen der schreibenden Profession Arbeit zu verschaffen, sollte es auch einen übergeordneten Zweck erfüllen: die Schaffung origineller Kunstwerke, welche die Zeit ihrer Entstehung sowohl ausdrücken als auch überdauern würden. Beunruhigt durch die Flut des Faschismus im Ausland und das nativistische Geschrei im eigenen Land, betrachteten die Architekten des Programms es als dringend notwendig, die kulturelle Vielfalt der Vereinigten Staaten von Amerika zu bekräftigen und zu feiern.

Und so wurden frisch ernannte Bundesschriftsteller*innen damit beauftragt, ein Porträt der »nationalen Identität« zu erstellen – und zwar eines, das Roosevelts Überzeugung widerspiegelte, dass Amerikaner*innen sich leichter über die Geschichten der einzelnen Menschen miteinander verbinden könnten als durch Reden, Fakten und Zahlen. Außerdem sollte der Bevölkerung gezeigt werden, wie pluralistisch die Gesellschaft geworden war. Aufgefordert, das reale Amerika zu »transkribieren«, suchten die Schriftsteller*innen im ganzen Land Industriearbeiter, Pächter, Hausfrauen und Einwanderer, Stadtbewohner*innen und Künstlerinnen auf und hielten – meist ohne Tonaufnahme, nur mit Bleistift und Papier – fest, was sie hörten und sahen. Nur wenige von ihnen waren ausgebildete Sozialwissenschaftler*innen oder Journalist*innen, aber der springende Punkt war ohnehin ein anderer: Sie waren selbst gewöhnliche Amerikaner*innen, häufig ihrerseits Opfer wirtschaftlicher Not und Diskriminierung. Gemeinsam leisteten diese Autor*innen Pionierarbeit für eine neue Art von Geschichtsschreibung, die nicht länger den mächtigsten Persönlichkeiten des Landes den Vorrang gab, sondern gewissermaßen von der Basis ausging.

Der Direktor des FWP, der Journalist und Dramatiker Henry Alsberg, glaubte, dass die Begegnung zwischen den Schreiberlingen und den regulären Amerikaner*innen dazu beitragen könnte, die US-amerikanische Literatur zu verändern. Seine Wünsche waren nicht weit hergeholt: Das Projekt engagierte einen beträchtlichen Teil der bemerkenswertesten Schriftsteller*innen des Landes, darunter Ralph Ellison, Richard Wright, Zora Neale Hurston, John Cheever, Arna Bontemps, Saul Bellow, Jack Conroy, Nelson Algren, Conrad Aiken, Margaret Walker, Dorothy West, May Swenson, Tillie Olsen, Kenneth Patchen oder Frank Yerby. Ihnen bot das Projekt nicht nur einen Gehaltsscheck, sondern auch eine Ausbildung in Dokumentarrecherche und -schreiben, ganz zu schweigen von einer unerschöpflichen Quelle an textlichem Rohmaterial aus der Feldforschung. All dies sollte sich in der Nachkriegszeit als einzigartig wertvoll erweisen, als Schriftsteller*innen begannen, neue Wege zu finden, um die amerikanische Kultur zu artikulieren.

Währenddessen war das FWP natürlich selbst nicht frei von Vorurteilen. Einige Veröffentlichungen wurden zu Recht für rassistische Verzerrungen und Stereotypisierung krisiert, in denen etwa Schwarze Commuities als kurios, exzentrisch und primitiv dargestellt wurden. Trotzdem rechnen zeitgenössische Historiker*innen es dem FWP hoch an, dass es die aufstrebende Strömung der Schwarzen Geschichtsschreibung vorantrieb und Schwarze Schriftsteller*innen unterstützte.

Mündlich erzählte Geschichte

Bis heute sind Forschende und Schreibende aus der ganzen Welt fasziniert von dem weitreichenden Nachhall des Federal Writers’ Project, genauer gesagt von der Art und Weise, wie es auf die Krisen seiner Zeit reagierte und diese produktiv zu nutzen verstand. Vielleicht ist das der Grund, warum sich das kürzlich von mir herausgegebene Buch »Rewriting America: New Essays on the Federal Writers’ Project« praktisch von selbst ergab. Als Prämisse legt der Essayband zugrunde, dass die (staatlich geförderten) Bemühungen des FWP, die diversen Geschichten des US-amerikanischen Lebens zu dokumentieren, auch in unsere Zeit passen.

Die damals entstandene Methode, aus der Ich-Perspektive zu erzählen, ist mittlerweile so vertraut, dass sie eigentlich überhaupt keine Methode mehr ist, sondern tatsächlich die gesamte Logik der digitalen Kultur mit konstituiert. Die Demokratisierung der zu vernehmenden Stimmen und die kollektive und zugleich fragmentierte Konstruktion von Geschichte sind längst zu vertrauten Mitteln geworden, uns gegenseitig einen Sinn zu geben. Die langsame – und umkämpfte – Abkehr von der Vorstellung einer einzigen Autorität über Kultur und Geschichte ist Gegenstand umfangreicher zeitgenössischer Forschung, auf die hier nicht näher eingegangen wird. Aber es lohnt sich eben doch, auf die FWP als bedeutenden Meilenstein in dieser Entwicklung hinzuweisen.

Das Projekt hat den Ansatz der Oral History mitbegründet und die Grundlagen für das moderne dokumentarische Schreiben gelegt. Als zentralisierter Apparat wurde in diesem Rahmen versucht, die US-amerikanische Identität zu dezentralisieren, indem man die Idee kultivierte, dass innerhalb dieser Identität, nicht trotz ihr, eine Vielzahl von Erfahrungen und Perspektiven artikuliert werden könne. Sobald man mit dem FWP vertraut ist, scheint es unmöglich, das Werk von »mündlichen Historiker*innen« der Gegenwart wie Alexander von Plato, Alessandro Portelli oder Julia Pirotte zu lesen, ohne einen Zusammenhang zu sehen: Sie alle präsentieren eine Fülle von Stimmen und Ich-Erzählungen, ebenso wie es zahllose Dokumentarfilme, Podcasts oder kreative Sachbücher tun.

»Rewriting America« ist der erste Band mit kritischen Essays über das Federal Writers’ Project und bringt als solcher unterschiedliche disziplinäre, regionale und theoretische Perspektiven zusammen. In diesem Sinne präsentiert die Textsammlung eine Vielfalt von Standpunkten etablierter, aufstrebender und insbesondere internationaler Wissenschaftler*innen und Schriftsteller*innen, mit Arbeiten aus den USA und Kanada, Deutschland, Japan und Australien. Die Essays ziehen Verbindungslinien zwischen Vergangenheit und Gegenwart und richten ihre Linse jeweils aus einem anderen Blickwinkel auf das FWP. Die spezifischen Themen reichen von der Untersuchung einzelner Autor*innen – etwa Richard Wright, Ralph Ellison und Margaret Walker, deren literarische Werke nachhaltig beeinflusst wurden durch ihre Feldarbeit für das Projekt, sowie Ernest Gaines, der die Erzählungen ehemals versklavter Menschen viele Jahre später in sein eigenes Schreiben einfließen ließ – über den Einfluss des FWP auf die regionalen Identitäten von New Orleans oder Coney Island (NYC) bis hin zur Wiederentdeckung verlorener Stimmen von asiatischen und hispanischen Amerikaner*innen.

Dokumentarisches in der Literatur

Darüber hinaus fügt sich »Rewriting America« in einen wissenschaftlichen Korpus ein, der in den 1970er Jahren Gestalt anzunehmen begann. Zweieinhalb Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des FWP schien der Fokus des Programms auf folkloristische Erzählungen, Autobiografisches und Ethnografie plötzlich wieder relevant für Geschichtswissenschaftler*innen, die persönliche Erfahrungen in ihrer Forschung privilegieren wollten. Jerre Mangione, selbst ein »Bundesschriftsteller«, der sich auf die Dokumentation sizilianischer Amerikaner konzentrierte, veröffentlichte mit seiner Ich-Erzählung »The Dream and the Deal: The Federal Writers’ Project, 1935–1943« im Jahr 1972 als erster eine umfassende Bewertung des FWP. Nur fünf Jahre später veröffentlichte Monty Penkower das Buch »The Federal Writers’ Project: A Study in Government Patronage of the Arts«.

Tatsächlich tauchten in den 1970er Jahren auch die ersten Quellenmaterialien des Projekts wieder auf, einschließlich der vollständigen Sammlung ehemaliger Sklav*innenerzählungen. Diese wurden unter dem Titel »The American Slave: A Composite Autobiography« veröffentlicht, herausgegeben von George Rawick, einem Historiker, der für das FWP gearbeitet hatte. Dem folgten zwei Bände mit persönlichen Erzählungen aus der Folklore-Sammlung: »Like Us: Southern Voices of the Thirties« und »First Person America«. Auch Meridel Le Sueurs Buch »The Girl«, ein Roman aus dem Jahr 1939 über eine Prostituierte, der auf den FWP-Interviews der Autorin mit Frauen in Minnesota basierte, wurde 1978 neu veröffentlicht – nachdem er während der McCarthy-Ära auf der »Schwarzen Liste« gestanden hatte. Im folgenden Jahr veröffentlichte ein weiterer Bundesautor, Sam Ross, seinen Roman »Windy City«, in dem er sich auf der Basis seiner umfangreichen FWP-Feldforschung mit der Chicagoer Jazz-Szene auseinandersetzt.

Von den 1980ern bis in die frühen 2000er Jahre wurde nur noch sehr wenig über das Projekt veröffentlicht, was vielleicht als passender Ausdruck sowohl der Reagan- als auch der Clinton-Ära gesehen werden kann: Beide setzten sich entschieden vom Modell einer angeblich »großen Regierung« ab, womit maßgeblich der Sozialstaat gemeint war. Und auch angesichts der damaligen wissenschaftlichen Fokussierung auf die Postmoderne wirkte der empirische Ansatz der FWP und die Assoziation mit der politischen Kultur der 1930er Jahre zweifellos kurios. Aber in den letzten Jahrzehnten hat die FWP erneut kritische Aufmerksamkeit erfahren, beginnend 2006 mit der Veröffentlichung von »Portrait of America: A Cultural History of the Federal Writers’ Project« von Jerrold Hirsch. Mit der These, dass die FWP aus den konkurrierenden Zielen des kulturellen Pluralismus und des romantischen Nationalismus geboren wurde, bietet Hirsch nicht nur eine Biografie des Projekts, sondern stellt dies auch in einen theoretischen Rahmen.

Anbruch einer neuen Zeit?

Nun scheinen regelrecht die Schleusen geöffnet zu sein und neue Stipendien für die Beforschung des FWP strömen nur so herein. Außerdem stellte der Demokratische Abgeordnete Ted Liu aus Kalifornien jüngst einen Gesetzentwurf vor, der ein neues Projekt fordert, um »der Massenarbeitslosigkeit von Schriftstellern entgegenzuwirken« und »ein Archiv zu schaffen, das die Geschichten der amerikanischen Geschichte archiviert«. Die Bundesstiftung National Endowment of the Humanities finanzierte ein einmonatiges Forschungsprogramm, das sich auf das Erbe des FWP konzentrierte. Tatsächlich spiegelte das Programm dieselben Impulse wider, die »Rewriting America« antrieben: Ein Interesse nicht allein daran, das reichhaltige Quellenmaterial des Projekts auszugraben, sondern auch vielfältige und komplexe Analysen anzubieten, die sich mit dem anhaltenden Nachhall des FWP in der US-amerikanischen Kultur und über sie hinaus befassen.

Wohin uns all dieses erneute Interesse führen wird, ist noch unklar – ob hier eine neue wissenschaftliche Strömung entsteht, mehr gezielte staatliche Förderung der Kunst gefordert oder sogar die Rolle überdacht wird, die Oral History in der Konstruktion einer pluralistischen Erzählung der US-Gesellschaft über sich selbst spielen kann. Wichtig ist jedenfalls, dass wir das Federal Writers’ Project als außergewöhnliche staatliche Maßnahme einer vergangenen Zeit nicht aus dem Blick verlieren. Wenn es eine Lektion gibt, die uns das FWP lehrt, ist es in der Tat diese: Wir sollten unsere Gegenwart, die einmal die Vergangenheit sein wird, ebenso erfinderisch und produktiv nutzen.

Teile dieses Artikels stammen aus der Einleitung zu dem Aufsatzband »Rewriting America: New Essays on the Federal Writers’ Project«, herausgegeben von Sara Rutkowski. Online ist das Buch hier[1] zu finden.

Links:

  1. https://www.umasspress.com/9781625346995/rewriting-america/
USA: Ich erzähle, also bin ich