Blickrichtung Osten

An der Stadtbrücke von Frankfurt (Oder) könnte das Zukunftszentrum Deutsche Einheit entstehen

Ein Kind im Rollstuhl und eine blonde junge Frau singen die Europahymne »Ode an die Freude«. Dazu spielen ein klassisches Orchester und eine Rockband. Ein Arbeiter zieht im Takt den Reißverschluss seiner Jacke hoch und runter und zwei Müllmänner klappern rhythmisch mit den Deckeln von Mülltonnen. Am Ende laufen alle Beteiligten gemeinsam auf die Stadtbrücke nach Słubice in Polen.

Es entsteht in diesem Kurzfilm die Sinfonie einer Stadt, der 1989 nur 10 000 Einwohner zur Großstadt fehlten, die ihre Bevölkerungszahl danach fast halbierte, sich aber nach bitteren Jahren langsam rappelt – und Heimat eines geplanten Zukunftszentrums für Deutsche Einheit und europäische Transformation werden könnte. 220 bis 230 Millionen Euro will der Bund für den Bau ausgeben und 43 Millionen Euro jährlich für die Gehälter von 180 Mitarbeitern und sonstige laufenden Kosten spendieren. So viel weiß man schon. Offen ist noch der Standort.

Eine Jury besuchte reihum Bewerberstädte wie Eisennach, Halle/Saale und Jena und machte am 24. Januar in Frankfurt (Oder) Station. Nun ist am 7. Februar noch Leipzig dran, dann könnte entschieden werden. Vielleicht gibt es auch noch eine Endrunde mit den zwei aussichtsreichsten Bewerbern. Angeblich ist die Sache längst ausgemacht und Frankfurt (Oder) der sichere Sieger. Wenn dem so wäre, hätte sich die Stadt am 24. Januar aber nicht so viel Mühe mit ihrer Präsentation geben müssen, bei der im Logensaal der Europa-Universität Viadrina der eingangs beschriebene Kurzfilm gezeigt wurde und Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) seine Unterstützung höchstpersönlich bekräftigte.

Der bewegende Kurzfilm habe die Augen einiger Jurymitglieder feucht werden lassen, verrät Oberbürgermeister René Wilke (Linke). Darüber hinaus schweigen er, seine Mitarbeiter und Universitätspräsidentin Eva Kocher eisern zu allen Fragen, wie es gelaufen sei. Immerhin zeigen sie aber interessierten Journalisten, was die Jury zum Auftakt in der Friedenskirche und bei einer Besichtigung des möglichen Baufeldes zu sehen bekam, und sie halten noch einmal die Vorträge, mit denen sie vor die Jury getreten sind. Es fehlt lediglich die kurze Busfahrt mit der kommunalen Stadtverkehrsgesellschaft von der provisorischen Haltestelle »Zukunftszentrum«, die einmal eine echte Station werden soll, über die Stadtbrücke hinüber nach Polen, dort einmal durch den Kreisverkehr und dann zum Logensaal. Die Journalisten müssen diese kurze Strecke laufen.

Frankfurt (Oder) hat von allen Städten seine Bewerbung, die einen dicken Aktenordner füllt, zuerst abgegeben. Als Oberbürgermeister Wilke die Ausschreibung las, sagte er intern: »Die meinen uns, auch wenn sie das noch nicht so genau wissen.« Sein Sprecher Uwe Meier formuliert es so: »Die suchen eine Stadt mit Vorzügen und Herausforderungen.« Oder anders gesagt: „Die suchen eine Universitätsstadt, die arm ist wie eine Kirchenmaus. Das ist gar nicht so leicht zu finden. Wir bieten das.»

Gefordert ist überdies Bauland oder ein Bestandsgebäude, das zum Zukunftszentrum umgebaut werden könnte. Frankfurt (Oder) bietet Bauland, an dessen Rand zwei alte Wohnblöcke stehen, die entweder leergezogen und abgerissen oder zu Gästehäusern umfunktioniert werden können. 6800 Quadratmeter links und 11 300 Quadratmeter rechts der Auffahrt zur Stadtbrücke stehen im historischen Kern der Stadt zur Verfügung. Hier befand sich vor mehr als 800 Jahren ein Fischerdorf, aus dem sich die Kommune entwickelte. Nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg und dem Abriss der Grenzanlagen mit dem EU-Beitritt Polens im Jahr 2004 hätte Frankfurt (Oder) auf diese einzigartigen Grundstücke irgendeinen Handelskomplex setzen können. Doch aus Erfahrungen mit einer spöttisch Kaufland-Bunker getauften Immobilie klug geworden und in weiser Voraussicht habe die Kommunalpolitik diese Fläche für »ein Ding« aufbewahrt, wie es jetzt das Zukunftszentrum sein könnte, erläutert Sprecher Meier.

Um die Fantasie der Jury anzuregen, hat die Stadt vier Entwürfe anfertigen lassen, wie das Zentrum ungefähr aussehen könnte – einer kühner und schöner als der andere. Eine von einem Baufeld zum anderen geschwungene Spange über die Straße ist darunter, die einen schönen wie symbolträchtigen Blick über die Oder Richtung Osten erlaubt und die ihrerseits von Słubice aus als markantes Eingangstor nach Deutschland und Westeuropa wahrzunehmen wäre. Auch eine Art Amphitheater wurde erdacht – mit Sitztreppen für Gäste, denn das Zentrum soll schließlich bis zu eine Million Besucher jährlich anziehen. 971 Hotelbetten in Frankfurt (Oder) und 707 im benachbarten Słubice stehen aktuell zur Verfügung. Bekommt die Doppelstadt den Zuschlag für das Zentrum werden es ganz sicher viel mehr, aber auch so schon ist ein Hotelneubau in Planung.

Niemand sonst in Ostdeutschland ist so prädestiniert für Forschungen zum Wandel in Osteuropa, verfügt die Doppelstadt doch mit der Viadrina in Frankfurt (Oder) und dem Collegium Polonicum in Słubice schon über die wissenschaftlichen Voraussetzungen, die mit dem Zukunftszentrum noch ausgebaut werden könnten. Bei den prägenden Ereignissen der Wendejahre 1989 und 1990 fällt einem sicher zuerst Leipzig mit seinen Montagsdemonstrationen ein. Aber auch in Frankfurt (Oder) gingen Menschen für Veränderungen auf die Straße, wobei sie bestimmt andere Vorstellungen davon hatten als den wirtschaftlichen Zusammenbruch und den Aderlass, den sie dann erleben mussten. Und auch in Frankfurt (Oder) wurde die Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit besetzt, um die Vernichtung von Akten zu stoppen. Danach erlebte die Oderstadt ein Auf und Ab. Das Halbleiterwerk wurde geschlossen, aus einer Chipfabrik ist nichts geworden. Dafür entstanden Solarfabriken, die kurz darauf aber schon wieder dicht machten. Der Schuldenberg, der beim Amtsantritt von René Wilke 120 Millionen Euro betrug, konnte auf unter 20 Millionen reduziert, aber noch nicht vollständig abgetragen werden. »Diese Stadt sehnt sich ein bisschen nach Rückkehr von Bedeutung, die wir mal hatten«, erklärt der Oberbürgermeister.

Ein bisschen zurückgekehrt in seine alte Heimat ist Mathias Pichel, dessen Berliner Kommunikationsagentur die Bewerbung betreut und der sich ein Erholungsgrundstück am nahen Helenesee kaufte. Er ist 1981 in Frankfurt (Oder) geboren und hier aufgewachsen, aber nach dem Abitur fortgegangen, um in der Ferne sein Glück zu suchen. Ihm geht es wie vielen Frankfurtern, die niemandem zeigen können, wo sie gewohnt haben und zur Schule gegangen sind, weil die Gebäude der Abrissbirne zum Opfer fielen.

Das Engagement der Bevölkerung für die Bewerbung – Graffitisprayer nahmen sich auf eigene Faust des Themas an – nennt Pichel im besten Sinne »nicht normal«. Pichels Agentur erdachte den Slogan »Stadt der Brückenbauer« und mehr als 700 Einwohner erklärten sich dann mit ihrem Foto zum Brückenbauer. Der Experte kann sich vorstellen: »Das bleibt.« Und es sorgt für einen Motivationsschub, selbst wenn das Zukunftszentrum an einem anderen Ort gebaut werden sollte. 

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