nd-aktuell.de / 30.01.2023 / Kultur / Seite 1

Hörst du die Gitarre?

Der Mann, der sich Tom Verlaine nannte, ist tot

Ella Mae Hengst

Wie jeder weiß, muss man, um etwas zu kreieren, das anders ist, dahin gehen, wo man noch nie zuvor war. Diesem Aufbruchsmantra folgend, flohen Ende der 60er Jahre Thomas Miller und sein Schulfreund Richard Myers aus der Provinz in Delaware direkt nach New York City. Sie waren jung und schmächtig und New York war damals dreckig, verarmt und abweisend. Genau richtig also als Nährboden für Neues. Miller und Myers waren weder die Ersten noch die Einzigen Drop-outs, die sich dann Anfang der 70er um das Lokal »CBGB’s« in Manhattan versammelten.

Miller stand auf Jazz und Poesie. In seiner Heimat lernte er Saxofon sowie Klavier. Diese Vorkenntnisse sollten ihn später zu einem der raren Lyrik-Rocker machen, die ihr Instrument überhaupt spielen konnten. Seine größten Helden waren der Freejazz-Saxofonist Albert Ayler sowie Arthur Rimbaud und Paul Verlaine, zwei wichtige französische Dichter des 19. Jahrhunderts. Verlaines Verse brannten sich so in Millers Kopf ein, dass er sich entschloss, von nun an als Tom Verlaine Downtown zu erobern. Sein Freund Richard Myers wurde zu Richard Hell[1]. Ihre Band nannten die beiden Neon Boys.

Und dann stößt eine junge Alleskönnerin namens Patti Smith auf diese beiden Jungs, die sich gerade noch so gegen das Biest- und für das Punksein entschieden haben. Tom Verlaine und Patti Smith beten dieselbe Dichtkunst an und schließlich auch einander. Sie werden ein Paar. Es folgt ein weiterer Umbruch: 1973 verlässt Richard Hell im Streit die Neon Boys, die dann ihren Namen in Television ändern. Hell gründet seine eigene Band, The Voidoids.

Da Verlaine schon Jazz spielen kann, traut er sich mit echter Do-it-yourself-Mentalität an die Gitarre und wird ein ziemlich guter Musiker. Ab 1974 spielen Television (bestes Lied für immer: »Prove it«, 1977) jeden Sonntagabend im »CBGB’s«. Bands wie die Talking Heads, Blondie[2] oder Suicide schließen sich dem an, und die Downtown-Punkwelt ist geboren. Sie erschaffen ein bedeutsames Fundament für spätere Hardcore- und Post-Punk-Bands der 80er Jahre wie die Bad Brains oder Bush Tetras.

1978 trennen sich Television nach ihrem zweiten Album »Adventure«, woraufhin Verlaine eine Solokarriere beginnt. Er spielt neun Alben ein, wurde nie so berühmt wie seine New Yorker Mitpunker*innen, wohl auch, weil er auf die Reproduktion von Klischees wenig Lust hatte. Der Klang seiner Gitarre war rasiermesserscharf und visionär. Am Sonnabend ist Tom Verlaine nach kurzer Krankheit in New York gestorben. Er wurde 73 Jahre alt.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1024116.nur-mayonnaise-und-pulverkaffee.html?sstr=Patti|Smith
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/933296.gelangweilte-grazie.html?sstr=CBGB