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Nicht verhältnismäßige Polizeibefugnisse

Bundesverfassungsgericht: Das Polizeigesetz im Nordosten ist teilweise verfassungswidrig

Mit dem »Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern« (SOG) hatten die Sicherheitsorgane im Nordosten im Jahr 2020 zahlreiche neue Überwachungsbefugnisse erhalten – ob beim Einsatz von V-Leuten und verdeckt Ermittelnden, bei Abhörmaßnahmen in und außerhalb der Wohnung oder beim Einsatz von Staatstrojanern. Mecklenburg-Vorpommern reihte sich damit in die Riege derjenigen Bundesländer ein, die in den letzten Jahren ihren Polizeibehörden – auch gegen erheblichen zivilgesellschaftlichen Widerstand – erheblich mehr Ermittlungsmöglichkeiten zukommen ließen.

Dabei, so urteilte nun das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, ist die damalige rot-schwarze Landesregierung viel zu weit gegangen. Allerdings kassierten die Richter*innen nicht alle beanstandeten Regelungen sofort ein, sondern geben der jetzigen rot-roten Regierungskoalition in Schwerin bei zahlreichen Vorschriften bis Jahresende Zeit, diese nachzubessern, da deren Verfassungswidrigkeit »nicht den Kern der mit ihnen eingeräumten Befugnisse, sondern einzelne Aspekte ihrer rechtsstaatlichen Ausgestaltung« beträfen.

Ein wiederkehrender Kritikpunkt Karlsruhes in dem Urteil, das am 9. Dezember 2022 gefällt und am Mittwoch veröffentlicht wurde: mangelnde Verhältnismäßigkeit. So sind bei den Regelungen zu längerfristigen Observationen, zum Ausspähen und Abhören von Wohnungen, zu Online-Durchsuchungen und zur Überwachung der Telekommunikation die Hürden für den Gebrauch zu niedrig angesetzt. Karlsruhe fordert hier, dass für Maßnahmen eine konkretisierte oder sogar dringende Gefahr vorliegen müsse. Bei der Wohnraumüberwachung zum Beispiel heißt es, dass die Eingriffsschwelle »nicht dem Erfordernis einer dringenden Gefahr« genüge. Auch die konkrete Ausgestaltung der Ermächtigung zur heimlichen Wohnungsbetretung und -durchsuchung genüge nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, »weil nicht hinreichend bestimmt geregelt ist, dass dies der Abwehr einer konkretisierten Gefahr dienen muss«.

Ein weiterer zentraler Punkt in dem Urteil ist der Schutz des sogenannten Kernbereichs privater Lebensgestaltung beim Einsatz von V-Leuten und verdeckt Ermittelnden. Karlsruhe verbietet hier unter anderem »das staatlich veranlasste Eingehen einer intimen Beziehung zum Zweck der Informationsgewinnung« und auch, dass V-Personen angeworben werden, um den eigenen Ehepartner zu bespitzeln.

Angestrengt wurde die Verfassungsbeschwerde von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und dem Bündnis Sogenannte Sicherheit. David Werdermann, Jurist und Verfahrenskoordinator der GFF, betonte nach dem Urteil dessen aus seiner Sicht weitreichende Bedeutung: »Das Urteil ist ein Erfolg für die Freiheitsrechte und wird über Mecklenburg-Vorpommern hinaus Auswirkungen haben. Karlsruhe stellt klar: Tiefe Grundrechtseingriffe wie die Wohnraumüberwachung oder die Telekommunikationsüberwachung sind nur gerechtfertigt, wenn eine konkrete Gefahr vorliegt.« Polizeirechtsverschärfungen in verschiedenen Bundesländern, die eine Überwachung weit im Vorfeld einer Gefahr zuließen, verletzten das Grundgesetz, so Werdermann.

Für den innenpolitischen Sprecher der Linksfraktion im Schweriner Landtag, Michael Noetzel, kam das Urteil nicht überraschend: »Die Linksfraktion und das breit getragene Bündnis ›Sogenannte Sicherheit‹ haben bereits vor Verabschiedung im Jahr 2020 auf die Verfassungswidrigkeit der ausgeweiteten Befugnisse hingewiesen.« Das damalige CDU-geführte Innenministerium habe wissentlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geopfert. »Aus meiner Sicht ist es äußerst fragwürdig, Gesetze auf den Weg zu bringen, die bewusst übers Ziel hinausschießen, um von Gerichten die verfassungsmäßigen Grenzen ausloten zu lassen. Das ist keine Politik, die sich mit Augenmaß an den tatsächlichen Bedarfen orientiert, sondern sicherheitspolitischer Fanatismus«, so Noetzel.

Auch die Grünen im Landtag sprechen von einem »Scheitern mit Ansage«. Die Ignoranz gegenüber Grundwerten der Verfassung müsse ein Ende haben, fordert Constanze Oehlrich, innen- und rechtspolitische Sprecherin der Fraktion. »Die Grundrechte auf informationelle Selbstbestimmung, auf Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme und auf die Wahrung des Fernmeldegeheimnisses, die durch diese SOG-Novelle verletzt werden, schützen die Freiheit der Bürger*innen und sind somit eine tragende Säule unserer Demokratie.«

Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Christian Pegel (SPD) kündigte am Mittwoch an, dem Landtag bis Jahresende einen Entwurf zur Änderung des Polizeigesetzes vorzulegen. Dabei würden die Vorgaben aus Karlsruhe eins zu eins umgesetzt, so Pegel.

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