nd-aktuell.de / 06.02.2023 / Kommentare / Seite 1

Letzte Generation: Ob Bali oder Thailand, Hauptsache Urlaub!

Wegen einer Flugreise übersät der Boulevard zwei Aktivist*innen der Letzten Generation mit Spott und dem Vorwurf der Doppelmoral.

Joel Schmidt

Schon mal was von »Bleiwüste«, »Küchenzuruf« oder der fragwürdigen Praktik des »Witwenschüttelns« gehört? Allesamt Sprachbilder aus dem Jargon des Journalismus. Während ersteres eine mit zu viel Text überfrachtete Zeitungsseite bezeichnet, steht der zweite Begriff für die Zusammenfassung der zentralen Aussage eines Textes. Beim Witwenschütteln wiederum handelt es sich um eine im Boulevard gängige Praxis: Das rücksichtslose Einfordern von Interviews oder Informationen bei Angehörigen von Unglücksopfern oder Menschen, denen Leid widerfährt. Boulevardblätter sind es auch, die es selbst in der sogenannten Saure-Gurken-Zeit noch vermögen, aus der kleinsten Mücke einen Elefanten zu machen.

Dass das Sommerloch in diesem Jahr bereits im Februar beginnt, ist ausnahmsweise mal weniger den Folgen des Klimawandels zu verdanken als den herausragenden journalistischen Leistungen eben jenes Boulevards. Was ist passiert? Küchenzuruf: Zwei Aktivist*innen der Letzten Generation[1], die sich wegen einer Klebeaktion vor Gericht hätten verantworten sollen, machen Urlaub auf Bali – Skandal! Sämtliche Medien greifen die Meldung auf, produzieren ermüdende Essays, besserwisserische Glossen und langweilige Pro- und Contra-Texte über die angebliche Doppelmoral der beiden Weltretter*innen. Ergebnis: Bleiwüste, wohin das Auge blickt.

»Rückflug wird letzter des Lebens«

Doch damit nicht genug. Während der Boulevard noch vergnüglich auf der Welle der Empörung surft, legt die »tageszeitung« nach und lässt die inkriminierten Aktivist*innen kurzerhand einen eigenen Artikel veröffentlichen. Titel: »Rückflug wird ›letzter des Lebens‹.« Auf 136 Zeilen üben Luisa und Yannick vor aller Öffentlichkeit Selbstkritik, wägen dabei penibel die Wahl ihres Verkehrsmittels sowie etwaiger Alternativrouten ab und legen pflichtbewusst die Höhe des verursachten CO2-Ausstoßes offen. Das Prinzip Witwenschütteln at it’s best.

Und da die journalistische Sorgfaltspflicht im Boulevard nicht gerade an erster Stelle steht, sehen sich die Autor*innen auch noch zu der einen oder anderen Richtigstellung genötigt. So sei ihr Fernbleiben vor Gericht mit eben diesem vorab abgesprochen gewesen. Zudem seien sie überhaupt nicht nach Bali, sondern nach Thailand geflogen.

Das Private ist politisch

Was bleibt also? »Bali oder Thailand, Hauptsache Urlaub«, mag man sich in Anlehnung an den großen deutschen Fußballphilosophen Lothar Matthäus bei Springers heißem Blatt gedacht haben, während man sich auf die Schultern klopfte, um den nächsten vermeintlichen Scoop zulasten der Klimabewegung zu feiern. Wer als Teil letzterer bislang nichts mit der Aussage »das Private ist politisch« anzufangen wusste, dürfte ihre Bedeutung nun schmerzhaft am Beispiel von Luisa und Yannick vorgeführt bekommen haben. Dabei möchte man ihnen Mut zusprechen, auch das Denken in Widersprüchen[2] zuzulassen. Und ihnen vorm Einstieg in den nächsten Flieger noch schnell die Floskel »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« hinterherrufen, statt sich dem moralgetränkten Diskurs der bürgerlichen Presse zu unterwerfen.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1169375.letzte-generation-das-einzige-was-sich-moralisch-richtig-anfuehlt.html?sstr=klimakatastrophe
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1170546.frankfurter-schule-jahre-institut-fuer-sozialforschung-symbol-veraenderter-praxis.html