Georgiens langer Weg in die EU

Unterwegs in Georgien, dem diesjährigen Partnerland der weltgrößten Reisemesse ITB

  • Simone F. Lucas
  • Lesedauer: 5 Min.
Blick auf Tiflis mit der Sameba-Kathedrale.
Blick auf Tiflis mit der Sameba-Kathedrale.

Das georgische Alphabet mit seinen seltsamen Buchstaben gehört zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit. Die 35 Buchstaben stehen für ein Land, das bis heute viele Extreme in sich vereint. Georgien, dieses Jahr Partnerland der ITB, gilt als der Schlüssel zum Kaukasus und strebt in die Europäische Union. Dafür wird immer wieder auf den Straßen der Hauptstadt Tiflis demonstriert.

Reiseinfos
  • Einreisen: Der Personalausweis genügt.
  • Anreisen: Lufthansa fliegt von München direkt nach Tiflis. Hier kommt man per Bahn in die Stadt oder auch mit dem Mietwagen.
  • Wohnen: In Tiflis selbst gibt es reichlich Hotels und Guest Houses. Auch unterwegs mangelt es nicht an Unterkünften. Die Preise sind moderat im europäischen Vergleich, der Standard ist sehr unterschiedlich.
  • Pauschalreisen: Rundreisen in Georgien bieten immer mehr Veranstalter an, z. B. Bavaria Fernreisen, Georgia Insight, Gebeco oder Studiosus.
  • Bezahlen: Ein georgischer Lari entspricht derzeit (Stand: Januar 2023) 35 Cent.
  • Informieren: Im Reisebüro oder im Internet unter http://georgien-aktuell.info

    Das »Paris des Ostens« zeugt vom unbedingten Willen der Mächtigen, Schritt zu halten mit dem Fortschritt. Die Moderne tobt sich am Europa-Platz aus: Über den Mtkwari-Fluss führt eine geschwungene, 150 Meter lange Fußgängerbrücke, die am Abend dank LED-Lampen zu einer Welle aus Licht wird. »Pampers« nennen die Georgier abschätzig die Konstruktion aus Stahl und Glas. »Champignon« sagen sie zu einem anderen Gebäude, das ein Ministerium beherbergt. Und wie zwei kommunizierende Röhren ragt die Konzert- und Ausstellungshalle in den Skulpturenpark.

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    Auch die Seilbahn auf den Sololaki-Berg mit der Festung Narikala wurde rundum erneuert, Leitner-Gondeln bringen Interessierte zur Aussichtsplattform. Gleich nebenan thront hoch über der Stadt die gigantische Kartlis Deda, die »Mutter Georgiens«, in Aluminium gekleidet und 1958 zur 1500-Jahr-Feier der Stadt aufgestellt. Wehrhaft zeigt sie sich mit einem Schwert in der Rechten und gastfreundlich mit einer Schale Wein in der Linken.

    Gigantomanie auch beim Kirchenbau: Die Sameba-Kathedrale im armenischen Viertel ist der größte Sakralbau Transkaukasiens. Überhaupt die Kirchen: Seit Georgien unabhängig wurde, sind die meisten wieder instand gesetzt worden und die Gläubigen strömen wieder dahin, wo sie sich Erlösung erhoffen. »Heimat, Sprache und Religion waren für uns Georgier immer wichtig«, sagt Nino Bregvadse, die schmale 30-jährige Deutschlehrerin, die ihr Geld mit Führungen verdient. Zentrum des Glaubens ist die Sioni-Kathedrale, Hauptsitz des mittlerweile fast 90-jährigen Patriarchen der georgisch-orthodoxen Apostelkirche, der »wichtiger ist als viele Politiker«, so Nino.

    Die Kirche liegt mitten in der Altstadt. Der Charme kleiner Gassen, die schönen Balkone an oft windschiefen Häusern, von denen der Putz bröckelt, die kleinen Lokale und winzigen Läden haben diese zum Hotspot der Globetrotter und Kneipengänger gemacht. Nicht nur in der Chardinstraße erinnert Tiflis an Paris, auch entlang des Flusses, wo Maler ihre Staffeleien aufgestellt haben und Trödler ihre Waren feilbieten. Und natürlich am Rustaveli Boulevard mit dem Parlamentsgebäude, Schauplatz der Rosenrevolution, die zum Rücktritt von Präsident Eduard Schewardnadse führte und Michail Saakaschwili an die Macht brachte.

    Der musste sie an Giorgi Margwelaschwili abgeben, der – anders als sein Vorgänger – eine russlandfreundliche Politik verfolgte. Derzeit ist Salome Surabischwili Präsidentin. Sie hat zuvor als Diplomatin in Frankreich Karriere gemacht und sieht vor allem in der EU eine Zukunft für ihr Land – erst recht nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine. Für Georgien war und ist Russland ein schwieriger Partner, auch wenn auf dem Kreuzpass seit 1983 ein Denkmal zu Ehren der 200 Jahre alten russisch-georgischen Freundschaft steht.

    Das etwas in die Jahre gekommene Halbrund hat frische Farben bekommen. Dahinter ballen sich dunkle Wolken wie ein Symbol dieser, wie Nino meint, eher einseitigen Freundschaft. Sie basiert auf dem Vertrag von Georgijewsk. 1783 riefen die von Persern und Osmanen bedrängten Georgier den christlichen Nachbarn Russland zu Hilfe. Doch erst nach drei Schlachten intervenierte das russische Reich, und sechs Jahre später annektierte der Zar das Nachbarland. Drei Jahre war Georgien nach dem Sturz des Zaren unabhängig, ehe die Rote Armee das Land der UdSSR einverleibte. So kam es, dass der schlimmste Schlächter der UdSSR ein Georgier ist: Josef Wissarionowitsch Dschugaschwilli, genannt Stalin. Für viele Besucher unbegreiflich: In seinem Heimatdorf Gori wird der Diktator noch heute von vielen wie ein Heilsbringer verehrt.

    Die erneute Unabhängigkeit wurde 1991 erklärt. Deutschland war das erste Land, das die Demokratische Republik Georgien anerkannte und eine Botschaft eröffnete. Seither sucht Georgien die Nähe zum Westen, zur Europäischen Union. Und Europa? Reklamiert die Mythen von Prometheus und dem Goldenen Vlies als europäisches Erbe. Doch sowohl das mythische Kolchis, Heimat des goldenen Vlieses, als auch der Kasbek, jener Berg, an den Prometheus geschmiedet worden sein soll, nachdem er den Menschen das Feuer gebracht hatte, liegen in Georgien, dem Land zwischen den Kontinenten.

    Nicht einmal der Wein ist eine europäische Erfindung. Seit 7000, wenn nicht sogar 8000 Jahren schon reift georgischer Wein in Tonamphoren, den Quevris – bis heute. Auf der kachetischen Weinstraße im Osten Georgiens kommt man der »Wiege des Weinanbaus« ganz nahe. Kleine Weingüter haben in der Gegend überlebt, wo seit Generationen nach uralten Methoden gekeltert wird. Die getöpferten Quevris können bis zu 2000 Liter fassen, sie werden im Boden versenkt und können dort die Jahrhunderte überdauern. Traditionsgemäß wird der Most in den Amphoren mit der Maische vergoren, und der Wein reift ohne künstliche Zusätze. Das Ergebnis ist ein für europäische Gaumen eher rustikales Geschmackserlebnis. Doch vor allem die Russen wussten den georgischen Wein zu schätzen. Als Putin 2006 ein russisches Embargo gegen georgische Produkte erklärte, brachte das die Winzer an den Rand des Ruins.

    Zu Europa zu gehören, ist trotz aller Anstrengungen bis heute ein Wunschtraum geblieben. Doch die Europäer strömen nach Georgien. Längst steht das einstige Sehnsuchtsland im Osten auf der Bucket List von Globetrottern aus aller Welt. Und längst gehört Tiflis zu den »must-have-seen places«. John Steinbeck, der 1948 zusammen mit Robert Capa für sein Buch »Russische Reise« auch in Georgien war, würde das wahrscheinlich nicht wundern. Für den Literaturnobelpreisträger war Georgien etwas Besonderes, so wunderbar, dass er tatsächlich zu glauben begann, »dass die meisten Russen hoffen, wenn sie ein sehr anständiges und tugendhaftes Leben führen, kommen sie nach ihrem Tod nicht in den Himmel, sondern nach Georgien«. Für viele Georgier von heute wäre das eher ein Albtraum.

    Die Recherche wurde von Studiosus unterstützt.

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