nd-aktuell.de / 06.02.2023 / Politik / Seite 1

Dokumentation als Aufklärung

Der russisch-jüdische Historiker Léon Poliakov gehört zu den Pionieren der Holocaust-Forschung. In seinem Buch »Von Moskau nach Beirut. Essay über die Desinforma­tion« untersucht er die Reaktionen auf den Libanonkrieg.

Robert Zwarg
Porträt von Léon Poliakov, geschätzt 1983
Porträt von Léon Poliakov, geschätzt 1983

Die zeitgenössische Diskussion um Israel und Antisemitismus, vor allem in jenem linksliberalen kulturbetrieblichen und medienmachenden Milieu, das mit immer größerer Verve das Recht auf »Israelkritik« für sich reklamiert, ist hierzulande von einer eklatanten Geschichtslosigkeit geprägt. Nicht nur dominieren, wo es um den Nahost-Konflikt geht, eindimensionale und manichäische Deutungsschablonen, in denen es weder eine Vorgeschichte noch verpasste oder ausgeschlagene Möglichkeiten gibt. Ausgeblendet wird vor allem der linke Antisemitismus und seine Geschichte. Weil man das Ressentiment gegen die Juden so gut wie ausschließlich bei der politischen Rechten sieht und sehen möchte, weil das Schwarz-Weiß-Denken des Antiimperialismus in der zeitgeistigen Gegenüberstellung von »Westen« und »Globalem Süden« fröhliche Urständ feiert und weil einen schon die Gesinnung auf der richtigen Seite der Geschichte platziert, ist eine ganze Reihe von Debatten über die blinden Flecken der Linken in Vergessenheit geraten.

Abhilfe könnte die Lektüre des Buches »Von Moskau nach Beirut. Essay über die Desinformation« von Léon Poliakov verschaffen. Es erschien 1983 auf Französisch und nun, herausgegeben und erstmalig übersetzt von Alex Carstiuc und Miriam Mettler, im Freiburger Verlag Ça Ira, der sich seit Jahrzehnten um eine Kritik und Aufarbeitung jener erwähnten Leerstellen der linken Geschichte bemüht und verdient gemacht hat. Bereits 1992 veröffentlichte der Verlag Poliakovs Streitschrift »Vom Antizionismus zum Antisemitismus« aus dem Jahr 1969. In der Berliner Edition Tiamat wiederum erschien zudem 2021 – mit 70 Jahren Verspätung – das Erstlingswerk des Historikers, »Bréviare de la haine. Le IIIe Reich et les Juifs«, unter dem Titel »Vom Hass zum Genozid. Das Dritte Reich und die Juden« erstmals auf Deutsch, ergänzt um ein umfangreiches und informatives Nachwort des Übersetzers Ahlrich Meyer.

Ein Pionier der Holocaust-Forschung

Léon Poliakov, Sohn russisch-jüdischer, großbürgerlich geprägter Eltern, ist ein Pionier der Holocaust-Forschung. Geboren 1910 in St. Petersburg, floh die Familie nach Deutschland und siedelte dann nach Frankreich um, wo Poliakov Literaturwissenschaft und Jura studierte. 1940 schloss er sich nach dreimonatiger Kriegsgefangenschaft der Résistance an. Früh wurde er Mitarbeiter des 1943 von Isaac Schneersohn gegründeten Centre de Documentation Juive Contemporaine, eines Zentrums zur Sammlung von Materialien über die Diskriminierung und Vernichtung der Juden in Frankreich. Den dort zusammengetragenen Quellen verdankt sich in hohem Maße Poliakovs »Bréviaire de la haine«, die erste systematische Gesamtdarstellung dessen, was man später Holocaust nennen sollte.

Die Materialien dienten zudem der französischen Anklagevertretung bei den Nürnberger Prozessen, an denen Poliakov als Sachverständiger teilnahm, und wurden während des Eichmann-Prozesses in Jerusalem zitiert. Ab 1955 veröffentlichte er seine schließlich auf (in der deutschen Übersetzung) acht Bände anwachsende »Geschichte des Antisemitismus«, die noch heute als Standardwerk der Antisemitismusforschung gilt. Im selben Jahr erschien die gemeinsam mit dem polnisch-jüdischen Historiker Joseph Wulf verfasste Schrift »Das Dritte Reich und die Juden«. Er lehrte und publizierte bis ins hohe Alter und starb 1997 im französischen Orsay.

Es ist heute kaum noch bekannt, wie wenig selbstverständlich das publizistische Engagement Poliakovs – als Autodidakt und Überlebender – war. Schon in den 50er Jahren urteilte man aus Deutschland, Poliakovs »Bréviaire de la haine« genüge wissenschaftlichen Maßstäben nicht; im sogenannten Historiker-Streit der 80er Jahre kritisierte man aus der Historikerzunft, Juden wie Poliakov und Wulf könnten als unmittelbar Betroffene keine objektive Forschung zum Holocaust betreiben. Gehindert hat dies Poliakov glücklicherweise nicht.

In seinen Arbeiten nahm er stets die Perspektive eines auf Mentalitäten und Ideologien konzentrierten, auf die Beweiskraft des geschriebenen Wortes setzenden Historikers ein. Auch »Von Moskau nach Beirut« zehrt von diesem Vertrauen in die aufklärerische Kraft der Dokumentation. Anlass des Essays waren die öffentlichen Reaktionen in Frankreich auf den Libanonkrieg 1982. Diagnostizierte bereits »Vom Antizionismus zum Antisemitismus« eine Amalgamierung von Antizionismus und Judenhass, handelt »Von Moskau nach Beirut« immer noch von den ideologischen Nachwehen des Jahres 1968, insbesondere hinsichtlich einer wachsenden linken Parteinahme für das »islamisch-progressive« Lager und der zunehmenden Verwandlung Israels in den, wie Poliakov im Vorwort schreibt, »Juden unter den Staaten«.

Der Libanonkrieg 1982

Am 6. Juni 1982 griff Israel palästinensische und syrische Stellungen im Südlibanon an und bombardierte Beirut. Der Libanon war zu jener Zeit von syrischen Truppen teilbesetzt; seit 1975 herrschte ein Bürgerkrieg, der schließlich auch den Nährboden der Hisbollah bereitete. Zur Vorgeschichte des Konflikts, die das Vorwort von Carstiuc und Mettler ausführlich darstellt, gehört die zur Permanenz gewordene Bedrohungslage des jungen jüdischen Staates. Der Militäraktion waren umfangreiche Angriffe auf den Norden Israels durch die PLO vorausgegangen, die in den 70er Jahren einen Teil des Libanon gewaltsam an sich gerissen hatte und sowohl die muslimische als auch die christliche Bevölkerung terrorisierte; in Frankreich und England hatte es Anschläge und Anschlagsversuche auf israelische Diplomaten gegeben.

Teile der libanesischen Bevölkerung begrüßten in der Hoffnung auf Stabilität das militärische Vorgehen gegen die palästinensischen und syrischen Truppen. Zugleich suchten vor allem christliche Milizen die Vorherrschaft im Land zu erlangen. Nach einem Waffenstillstand Ende Juni wurde die PLO schließlich gezwungen, das Land zu verlassen. Die Lage blieb jedoch prekär. Im September 1982 verübten falangistisch-libanesische Milizen ein Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern von Sabra und Schatila. Das israelische Militär hatte sich zwar nicht an den Gewalttaten beteiligt, sie jedoch zugelassen, was sowohl in Israel – wo bald eine Untersuchungskommission zur Aufklärung der Ereignisse eingesetzt wurde – als auch in Europa für heftige Empörung sorgte. Verteidigungsminister Ariel Sharon musste nach scharfer Kritik und der Veröffentlichung des Untersuchungsberichts schließlich zurücktreten.

Mit akribischer Genauigkeit arbeitet sich Poliakov durch die öffentlichen Reaktionen auf den Libanonkrieg und die Vorgeschichte. Das militärische Vorgehen Israels sah er durchaus kritisch, allerdings stand dies weder im Verhältnis zu den überbordenden Leidenschaften und Affekten, die es auslöste, noch zur spontanen Einigkeit, die sich zwischen politisch unterschiedlichen Gruppen herstellte.

Besondere Aufmerksamkeit widmet er dabei der Desinformationskampagne aus Moskau, die mit falschen Opferzahlen, einseitigen Berichten und historischen Vergleichen, in denen Israel und die Juden zu den neuen Nazis erklärt wurden, die Öffentlichkeit beeinflusste. In einem konzisen Kapitel verfolgt er die sowjetische Propaganda, an der sich die terminologische Ersetzung des Wortes »Jude« durch »Zionist« nachvollziehen lässt, bis in das Jahr 1918 zurück. Ähnlich detailliert und mit historischer Tiefenschärfe beschäftigt er sich mit arabischer Propaganda und verfolgt die sukzessive Radikalisierung eines nicht mehr bloß nationalistisch, sondern islamistisch grundierten Antisemitismus. 

Über die Reaktionen in Deutschland informiert ein separates Kapitel von Rudolf Pfisterer, einem württembergischen Pfarrer, mit dem Poliakov seit Mitte der 70er Jahre zusammenarbeitete. Nach dem Sechstagekrieg war der Libanonkrieg für die bundesrepublikanische Linke eine erneute Gelegenheit, sich aufgrund der »besonderen Verantwortung« als Deutsche mit der Parteinahme für die Palästinenser der störenden Erinnerung an den Nationalsozialismus durch den Staat Israel und die mit ihm assoziierten Juden zu entledigen. Bei Worten blieb es nicht. Einem Redakteur der »Taz« wurden nach einem kritischen Bericht über eine Veranstaltung mit einem PLO-Vertreter an der TU Berlin die Fensterscheiben seiner Wohnung eingeworfen, ins Treppenhaus sprühte man »Zionistenschwein«.

Streitschrift gegen Antisemitismus

Einerseits ist »Von Moskau nach Beirut« eine Streitschrift gegen die offen antisemitischen Stimmen unter den Reaktionen auf den Libanonkrieg und eine Darstellung ihrer historischen Wurzeln. Den wichtigsten ideologischen Gegensatz – und das ist mit Blick auf die Gegenwart bedeutsam – sah Poliakov jedoch nicht zwischen der Linken und der Rechten, »sondern zwischen der sogenannten Intelligenz und den Durchschnittsfranzosen«.

Andererseits ist sich Poliakov keineswegs sicher, ob sich das öffentliche Geschehen auf die Wiederkehr des »alten französischen Antisemitismus« reduzieren lässt. Im Grunde äußert sich darin die Ahnung, dass die neue geopolitische Gemengelage, die ideologischen Transformationen der Generation von 1968, Israels noch junge, staatliche Souveränität und deren Verhältnis zur internationalen Gemeinschaft sowie das willkürlich auf- und abnehmende Interesse am Schicksal der Palästinenser seinen Begriff vom Antisemitismus, der sich recht eigentlich aus dem Antijudaismus des Mittelalters herleitet, herausfordern. Dass Poliakov am Ende des Buches nach einigem Abwägen davon spricht, dass das Verschweigen der Tatsache, dass Jesus und seine Jünger selbst Juden waren, vielleicht »die bedeutendste Desinformation der westlichen Geschichte« sei, »die den Keim für all jene enthält«, die das Buch besprochen hat, drängt diese Ahnung wieder zurück.

Léon Poliakov: Von Moskau nach Beirut. Essay über Desinformation. Ça Ira 2022, 224 S., br., 25 €.