nd-aktuell.de / 07.02.2023 / Kultur / Seite 1

Was kommt nach dem Kapitalismus?

Fünf Tage lang wurde vor 130 Jahren im Deutschen Reichstag über den Sozialismus diskutiert

Michail Nelken

Am Ende des 19. Jahrhunderts befand sich die kapitalistische Welt in einer Wirtschafts- und Systemkrise. Endzeitstimmung und Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung breitete sich unter unterschiedlichen politischen Vorzeichen aus. Die internationale sozialistische Arbeiterbewegung, die die kapitalistische Gesellschaftsordnung durch eine sozialistische zu ersetzen anstrebte, erstarkte in vielen Ländern Europas, insbesondere in Deutschland. Zu Beginn des Jahres 1893 kam es im Deutschen Reichstag zu einer denkwürdigen Debatte über den sozialistischen Zukunftsstaat der Sozialdemokratie. Sie erstreckte sich über fünf Sitzungstage in der Zeit vom 31. Januar bis zum 7. Februar 1893 und ging als »Zukunftsstaatsdebatte« in die Geschichte ein.

Auf der Tagesordnung des Reichstages stand eigentlich das Budget des Reichsamtes des Inneren. In diesen fünf Tagen wurde im Reichstag allerdings ausgedehnt über die nach einer Regierungsübernahme der Sozialdemokraten entstehende Staats- und Gesellschaftsordnung diskutiert. Die SPD hatte sich nach dem Fall des Sozialistengesetzes 1890 auf dem Erfurter Parteitag 1891 ein revolutionäres marxistisches Parteiprogramm gegeben, das die Überwindung des Kapitalismus und die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung als Lösung aller sozialen Probleme auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Das war keine akademische Debatte, sondern eine parteipolitische Redeschlacht vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise, hoher Arbeitslosigkeit und zunehmender Not der arbeitenden Bevölkerung. 

Seit Herbst 1892 bestimmte eine neue Wehrvorlage mit einer erheblichen Erhöhung der Rüstungsausgaben die politische Debatte in Deutschland. Ein Scheitern der Wehrvorlage bedeutete absehbar Neuwahlen. Von denen sich die SPD einen weiteren politischen Machtgewinn erhoffte. Angesichts dessen sah sich das staatstragende Lager von den konservativ-reaktionären Parteien über die katholische Zentrumspartei bis hin zu den Liberalen in der politischen Defensive. Die Sozialreformen der letzten Jahre hatten den Zulauf zur Sozialdemokratie nicht stoppen können. Trotz vielfältiger Meinungsverschiedenheiten untereinander schien angesichts der absehbaren Neuwahlen ein gemeinsamer Angriff der systemtragenden Parteien gegen die umstürzlerische SPD auf der Tribüne des Reichstages ein erfolgversprechendes politisches Manöver.

Schon in den Jahren 1891/92 waren einige propagandistische Kampfschriften gegen die Sozialdemokratie publiziert worden. Am bekanntesten wurde die Schrift von Eugen Richter »Sozialdemokratische Zukunftsbilder. Frei nach Bebel«, die im Jahre 1891 erschien und deren vielfache Auflagen massenhafte Verbreitung fanden. In der Reichstagsdebatte über den sozialdemokratischen Zukunftsstaat Anfang 1893 spielte diese Schrift eine gewichtige Rolle, und Eugen Richter, Reichstagsabgeordneter der Deutschen Freisinnigen Partei, ergriff in der Debatte persönlich das Wort. Eröffnet wurde sie aber von Dr. Karl Bachem, einem Abgeordneten der Deutschen Zentrumspartei.

Bachem forderte August Bebel auf, hier und jetzt darzulegen, wie der sozialdemokratische Zukunftsstaat aussehen und funktionieren solle. Er habe sich bemüht, dies durch das Studium sozialdemokratischer Texte zu erfahren, was ihm aber nicht gelungen sei. Könne er denn das Gebilde, das der Kollege Eugen Richter aus diesen Schriften als sozialdemokratischen Zukunftsstaat konstruiert habe, als Zukunftsplan der SPD annehmen? 

Eine rein rhetorische Frage, wusste Bachem doch genau, dass die Sozialdemokraten die Richtersche Kampfschrift mit Kritik und Spott überschüttet hatten. Bachem fokussierte seinen Angriff dann auf die Frage, wie im sozialdemokratischen Zukunftsstaat Produktion, Distribution und Konsumtion geplant und reguliert werden würden. Da die Produktionsmittel in Gemeineigentum vergesellschaftet und die Marktwirtschaft abgeschafft werden sollen, bedürfe es ja einer andersartigen Regulierung von Produktion und Konsumtion. Der sozialdemokratische Staat bräuchte zur Realisierung dieser zentral geplanten Produktion und Konsumtion mehr Autorität und Zwangsmittel als der gegenwärtige.

Die Redner der staatstragenden Parteien – vom Liberalen Eugen Richter über den Konservativen Freiherr von Stumm-Halberg (ein Montanindustrieller) bis zum antisemitischen Rechtsaußen Adolf Stoecker (Domprediger in Berlin) – bewegten sich bei unterschiedlichen Detailausschmückungen alle auf dieser Argumentationslinie. Die Verheißung von Gleichheit, Freiheit und Wohlfahrt für alle im sozialdemokratischen Zukunftsstaat sei ein Schwindel, mit dem die SPD die Arbeiterschaft zu einem abenteuerlichen Umsturz der gesellschaftlichen Ordnung aufwiegeln wolle. Stattdessen würden Zwang, Unterdrückung, wirtschaftlicher Niedergang und Armut diesen sozialdemokratischen Zukunftsstaat prägen. Die Sozialdemokraten würden einen Zukunftsstaat der Eigentumsgleichheit, gleicher Arbeit und gleicher Rechte ohne Rücksicht auf die Natur der Menschen konstruieren. Das sei ein Irrweg, da die Menschen nicht gleich seien. Anders als die unterstellten idealen uneigennützigen strebten die wirklichen Menschen mehr oder weniger nach dem eigenen Vorteil. Aus diesen Gründen würde der sozialdemokratische Zukunftsstaat notwendig als ein Zwangsstaat enden, der einem Zuchthaus gleichen würde.

Die Hauptlast der Debatte auf sozialdemokratischer Seite trug August Bebel. Er hielt zwei große Reden am 3. und am 6. Februar 1893. Er legte den politisch-taktischen Charakter der Debatte offen. Die gegnerischen Parteien würden hier eine »Verlegenheitsdebatte« führen, um angesichts der absehbaren Neuwahlen ein Schreckensbild von den Zielen der Sozialdemokratie zu zeichnen. Das solle die Arbeiter davon abhalten, die SPD zu wählen. Tatsächlich sei ein Großteil der für den sozialdemokratischen Zukunftsstaat prophezeiten Schrecken für die arbeitende Bevölkerung heute Realität: Armut, Mangel an Möglichkeiten zur Bildung, familien- und gesundheitsschädigende Arbeits- und Lebensverhältnisse, das Fehlen an realer Freizügigkeit bei der Wahl der Arbeit und des Lebensortes aufgrund existenzieller Zwänge der Lohnarbeit. In einer sozialistischen Gesellschaft würden aber diese schrecklichen Verhältnisse endgültig beseitigt. Die SPD sei eine konsequent demokratische Partei, die niemals ein Zwangsregime errichten würde. Die Arbeiterschaft würden derartiges niemals dulden.

Bebel erklärte dann, dass die SPD gar keinen »Zukunftsstaat« anstrebe, weshalb man von ihm auch nicht erwarten könne, dass er diesen ausmale. In der Frühphase der Sozialdemokratischen Bewegung hätte es wohl die Tendenz gegeben, einen idealen »Zukunftsstaat« zu konstruieren und für dessen Einführung zu werben. Die Sozialdemokratie habe sich aber weiterentwickelt und ihre Programmatik stehe jetzt auf dem Boden der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Lauf der Geschichte. Der Kapitalismus sei ein notwendiges Stadium der Menschheitsgeschichte zur Entfaltung der Produktivkräfte, aber er würde zunehmend zu deren Fessel. Daraus folge geschichtlich notwendig seine Überwindung. Die kommende sozialistische Gesellschaft sei kein utopisches Gedankenkonstrukt, sondern das naturgesetzliche, logische Produkt der kapitalistischen Gesellschaft. 

Die Eckpunkte dieser neuen sozialistischen Gesellschaftsordnung leiteten sich aus den wesentlichen Defiziten der kapitalistischen Gesellschaft her, die die Ursachen von Krisen und Not seien. Diese Eckpunkte seien die Vergesellschaftung von Grund und Boden und großen Fabriken, die allgemeine Pflicht zur Arbeit, die allgemeine Planung und Steuerung von Produktion und Konsumtion nach den tatsächlichen Bedarfen der Menschen, allgemeine Bildung und Entfaltung der schöpferischen Fähigkeit aller Mitglieder der Gesellschaft durch die Befreiung von der ausbeuterischen Lohnarbeit, die der Mehrung des Profits der Kapitalisten diene. Im Grunde genommen sei mit der erreichten Produktivität, so Bebel, ein Wohlergehen für alle Menschen möglich. Dass stattdessen Not und Elend für so viele herrschten, sei einzig in der kapitalistischen Staats- und Gesellschaftsordnung begründet.

Wie aber diese neue sozialistische Ordnung im Einzelnen organisiert werde, hänge von den konkreten Verhältnissen zum Zeitpunkt des Eintritts dieser Umwälzung ab. Dies heute schon ausmalen zu wollen, sei unseriös. Die Entwicklung in Technik und Produktion, im Kommunikations- und Verkehrswesen sei so rasant, dass man heute noch nicht sagen könne, wie man in Zukunft Produktion, Distribution und Konsumtion organisieren werde.

Diese Entgegnung von Bebel war kein rein taktisches Manöver in einer parteipolitischen Auseinandersetzung auf der Bühne des Reichstages, sondern vor allem die Bekräftigung eines theoretischen Konsolidierungsprozesses der deutschen Sozialdemokratie, der im Erfurter Programm von 1891 seine Manifestation gefunden hatte. Ein zentraler Kernpunkt war dabei die von Karl Marx und Friedrich Engels stark beförderte Lösung von utopisch sozialistischen Gesellschaftsvorstellungen der »Frühsozialisten« (Owen, Saint-Simon, Fourier etc.), aber auch von den Ideen des »Genossenschaftssozialismus« von Hermann Schulze-Delitzsch oder Ferdinand Lassalle, die in der Entstehungsphase der Sozialdemokratie noch dominant waren. Hinzu kam, dass zu Anfang der 1890er Jahre verschiedene sozialutopische Schriften aus bürgerlichen Kreisen erheblichen Anklang fanden. So wurde die kapitalismuskritische Schrift von Edward Bellamy »Rückblick aus dem Jahre 2000« zu einem internationalen Bestseller. Auch von dessen Darstellung der Zukunftsordnung suchte Bebel die Sozialdemokratie abzugrenzen.

Nachdem am 7. Februar auch noch Wilhelm Liebknecht von der Sozialdemokratie eine Rede hielt, erklärte der Abgeordnete Adolf Stoecker für die staatstragenden Fraktionen: »Alles muss ein Ende haben und diese Debatte auch.« Beide Seiten proklamierten sich anschließend zum Sieger dieser Redeschlacht im Reichstag. Engels gratulierte Bebel in einem Brief zu dessen Argumentation und wertete die Tatsache, dass der Deutsche Reichstag fünf Tage lang über eine sozialistische Ordnung der Gesellschaft diskutiert habe, als ein historisches Zeichen. Beide Seiten brachten im Anschluss an die Reichstagsdebatte jeweils Broschüren für die Massenagitation heraus, die die »Zukunftsstaatsdebatte« im vollen Umfang dokumentierten. Bei den vorgezogenen Neuwahlen vom Juni 1893 erzielte die SPD die mit Abstand meisten Wählerstimmen und konnte die Zahl ihrer Reichstagsmandate von 35 auf 44 (von 397) erhöhen.

Heute machen Politiker, Wissenschaftler, Vertreter von zivilgesellschaftlichen Organisationen aus aller Welt und allen sozialen Schichten die Produktions- und Konsumtionsweise des Kapitalismus wieder für die globalen Existenzkrisen verantwortlich und fordern eine neue, andersartige Wirtschafts- und Sozialordnung jenseits der kapitalistischen Wachstums- und Profitwirtschaft. Ihnen wird heute wieder die Schauergeschichte vom Zusammenbruch der Wirtschaft, vom Verlust von Produktivität und Effektivität, von drohender zentralstaatlicher Reglementierung und Rationierung, vom Verlust von Freizügigkeit und Wohlstand entgegengehalten. Sie werden aber nicht nur mit dystopischen Fantasien von mehr oder weniger geistreichen Autoren konfrontiert, sondern auch mit dem Verweis auf die untergegangene Planwirtschaft in der DDR und den anderen Ostblockstaaten und deren undemokratischen gesellschaftlichen Zwangscharakter. Die Kernfrage nach den Grundprinzipien der Organisation und Steuerung von Produktion und Konsumtion in einer postkapitalistischen Gesellschaft harrt 130 Jahre nach der »Zukunftsstaatsdebatte« immer noch einer überzeugenden Antwort.