Ich schwebe. Unter mir flutschen Fischlein weg, einen Schwimmstoß fort von der verrosteten Leiter wird es tief, sehe ich große Makrelen, die sich im Seegras wiegen, wunderbunte Lippfische, die einzeln ihrer Wege ziehen und Mönchsfische, die wie ich hin und her geschaukelt werden. Der Schnorchel sitzt, die Brille ist noch nicht beschlagen. Am Rand des Riffs fliege ich über Türme und Bögen, Spalten und glatte Oberflächen. Blasen steigen auf, das Wasser drückt oder zieht mich. Ich breite die Arme aus. Das ist Glück, denke ich und ziehe tief Luft ein, als ein Muränenkopf aus einem Loch schnellt und mich anfaucht. Spitze Zähne, böse Augen. Ich schwimme hektisch rückwärts und strample, verschlucke mich. Herz und Atmung beruhigen, wieder schweben.
Wir sind eine Woche auf Rhodos, Urlaub ohne Auto mit viel Wasser und kulturellen Stätten. Beides gibt es zuhauf. Vom Flughafen geht es per Bus in die Inselhauptstadt, Anfang Oktober schieben sich täglich mehrere Schiffsladungen Menschen durch die Gassen der Altstadt. Etwas abseits haben wir eine Bleibe mit Gärtchen, Wohnküche und tieferliegendem Schlafzimmer gefunden, kühl und ruhig. Wir schlafen wie die Bären.
Noch am ersten Abend laufen wir durch gigantische Mauern der milden Abendsonne entgegen, am Hafen und den Kai-Enden entlang, auf denen die Füße des Kolosses gestanden haben sollen. Wir sehen Jachten, Angler und Katzen aller Art, bis der Elli-Strand[1] in Sichtweite zum blassgrauen türkischen Gebirge auftaucht. Das Wasser ist aufgewühlt, Schwimmen wie Schnorcheln schwierig, also Muschelsuche am Steinstrand. Vor der Küste ragt ein Betonsprungturm aus dem Meer, springende Männer werden von Frauen auf Badetüchern beklatscht oder ignoriert.
Mein Gefährte fahndet nach Fußballspielen, ich lese, wie die Italiener zwischen 1912 und 1947 Rhodos kontrollierten und Unglaubliches bauten, nicht nur den Sprungturm, die halbe Stadt und das Stadion, auch die mittelalterliche Johanniterfestung mit Großmeisterpalast, Krankenhaus und Wällen bauten sie wieder auf – und veränderten dabei größenwahnsinnig die Maßstäbe. Mussolini[2] sollte hier residieren, kam aber nicht, bis heute hängt sein Bild im Palast. Als Besucher verliert man sich in pompösen Sälen, in den Außenwällen der Festung könnten Elefantenherden weiden.
Das Stadion ist marode, die Mannschaft des zweitklassigen Vereins Diagoros[3] spielt ihr Heimspiel im benachbarten Ialysos aus, während wir biertrinkend in Rhodos auf den Anpfiff warten. Dafür spielen Schüler auf der frei zugänglichen Ausgrabungsfläche Fußball, als wir Akropolis und antikes Stadion besichtigen.
Am Zefyros-Stadtstrand[4] Richtung Osten ist das Meer ruhig. Hier trifft sich die halbe Stadt. Man kann hundert Meter am Stück schwimmen oder am Ufer zwischen Frauen planschen, die in Gruppen singend durchs flache Wasser waten. Nur zwanzig Minuten Busfahrt entfernt liegt der Kallithea Beach. Morgens gegen neun Uhr ist er verwaist. Wir sind die Ersten im Wasser, nach dem Muränen-Schreck schwimme ich hinaus, bis ich tief unter mir stachlige Kugeln entdecke. Eine Fischfamilie mit weißgestreiften Stacheln, Feuerfische, die vermehrt[5] durch den Suez-Kanal einwandern. Ich schwebe weiter.
Beim Abendspaziergang durch die Altstadt krakeelt ein Kakadu von einem Dach, die Besitzerin wirbt mit warmen Worten um sein Herunterkommen. Es finden sich spontane Helfer, bei Sonnenuntergang krakeelt die ganze Gasse um die Wette. Das Lächeln nehmen wir mit, bis Anfang März endlich wieder die Sonne in Berlin scheint.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1171427.ueber-wasser-schwerelos-am-koloss.html