nd-aktuell.de / 10.03.2023 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 1

Debatte um Extraktivismus: Woher nehmen, wenn nicht ...

Energiewende und Dekarbonisierung verbrauchen enorme Ressourcen. Dass diese aus dem Globalen Süden kommen, zeigt ein bekanntes Muster der Ausbeutung

Anne Tittor

Den Klimawandel einzudämmen gilt mittlerweile als eine der wichtigsten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Um eine Erwärmung der Durchschnittstemperatur der Erde zu begrenzen, ist schnelles Handeln jetzt wichtiger denn je. Eine zentrale Rolle kommt dabei der Dekarbonisierung zu, das heißt der Verminderung kohlenstoffhaltiger Emissionen, insbesondere durch die Abkehr von fossilen Energieträgern und den Verzicht auf kohlenstoffhaltige Rohstoffe. Dekarbonisierung ist ein notwendiger und zentraler Baustein, um die Klimaziele zu erreichen, aber noch kein hinreichender Schritt. Dennoch wird in der aktuellen politischen Debatte in erster Linie über die technische Machbarkeit der Dekarbonisierung diskutiert, statt über eine Vielzahl von notwendigen Maßnahmen im Sinne einer wünschenswerten sozial-ökologischen Transformation. Obwohl die notwendige Dekarbonisierung bisher erst unzureichend umgesetzt wird, bringt sie schon jetzt zahlreiche sozial-ökologische Transformationskonflikte hervor.

Hierzulande wird unter diesem Stichwort der Blick vor allem auf den Umbau der Automobilbranche, die soziale Situation in den Braunkohlerevieren und in die energieintensiven Industriesektoren gerichtet oder auf die Konfliktachsen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen. Doch sozial-ökologische Transformationskonflikte gibt es nicht nur in hochindustrialisierten Ländern. Sobald die Rohstoffbasis dekarbonisiert wird, betrifft diese Dekarbonisierung ebenso die Energie- und Rohstofflieferanten. Denn auch nachwachsende Rohstoffe müssen produziert und Energie muss hergestellt werden. Beides belegt dabei große Landflächen. Um das Erdöl für die bundesdeutsche Kunststoffproduktion durch nachwachsende Rohstoffe zu substituieren, wäre derzeit ein Drittel der deutschen Ackerfläche nötig. Zudem verbrauchen die meisten der sogenannten Zukunftstechnologien erhebliche Mengen metallischer Rohstoffe und oft wahrscheinlich noch viel mehr Energie als die herkömmlichen, fossilen Prozesse.

Konflikttreiber Dekarbonisierung

Durch den Zugriff auf Rohstoffe, Energie und Land wirkt die Dekarbonisierung als Treiber für sozial-ökologische (Transformations-)Konflikte im Globalen Süden. In Anlehnung an die argentinische Soziologin Maristella Svampa werden unter sozial-ökologischen Konflikten Auseinandersetzungen verstanden, die mit dem Zugang zu und der Kontrolle von Naturgütern und Territorien verbunden sind. Sie implizieren unterschiedliche Interessen und Werte in einem Kontext großer Machtasymmetrie und drücken sich in unterschiedlichen Auffassungen von Territorium, Umwelt und Natur aus. Der Begriff sozial-ökologisch betont, dass Gesellschaft und Natur in einem untrennbaren Wechselverhältnis miteinander stehen. Sozial-ökologische Konflikte sind somit Auseinandersetzungen um Naturaneignungen, deren Notwendigkeit mit Dekarbonisierungsbemühungen, insbesondere des Globalen Nordens, begründet wird.

Die Welt ist weiterhin von Machtbeziehungen und strukturellen Abhängigkeitsverhältnissen geprägt, die eine anhaltende Folge des Kolonialismus sind und handels- und außenpolitisch aufrechterhalten werden. Dabei wird den Ländern des Globalen Südens vor allem die Rolle der Rohstofflieferanten zugewiesen. Diese Annahmen werden in dem Schlagwort des Extraktivismus pointiert verdichtet. Dekarbonisierungsprozesse erfordern bestimmte Rohstoffe (darunter Erze und Metalle) und Energiemengen sowie damit auch den Zugriff auf Land für die weitere Inwertsetzung von Territorien zum Biomasseanbau (Soja, Palmöl, Holz etc.) und die Gewinnung erneuerbarer Energie (besonders große Staudämme und Windparks). Kurzum, die stoffliche Grundlage der Dekarbonisierung hat sozial-ökologische Folgekosten. Für die daraus resultierenden Konflikte im Globalen Süden wird hier das Konzept des »postfossilen Extraktivismus« vorgeschlagen.

Dekarbonisierungsprozesse gehen mit der stofflichen Verschiebung der Ressourcengrundlage der Gesellschaft einher. Gegenwärtig wird eine Verschiebung der stofflichen Grundlagen weg von fossilen Stoffen angestrebt und ist auch schon eingeleitet. Mit »fossil« werden im geologischen Sinn Energieträger bezeichnet, die sich durch den Einschluss tierischer und pflanzlicher Überreste der frühen Erdzeitalter ins Gestein zu Erdöl, Erdgas und Kohle entwickelt haben. Diese setzen bei der Verbrennung hohe Mengen von CO2 frei. »Post-fossil« werden deshalb Strategien benannt, die eine Abkehr von diesen Brennstoffen einleiten und als CO2-arme oder CO2-freie Energieträger gelten.

Darüber hinaus gibt es eine Reihe metallischer und mineralischer Rohstoffe, die mittels Bergbaus gewonnen werden, die zwar nicht-erneuerbar sind, aber auch nicht als fossile Stoffe gelten. All diese sowie die ganze Palette an erneuerbaren Rohstoffen werden vermutlich weiter gebraucht, wenn Strategien der Dekarbonisierung an Bedeutung gewinnen. Die Ressourcengrundlage der postfossilen Gesellschaft umfasst eben nicht nur erneuerbare Ressourcen, sondern ist auch zentral auf Erze und Salze angewiesen. Wie genau eine postfossile Wirtschaft und Gesellschaft also aussehen könnte, ist offen und umkämpft.

Zu hoher Landverbrauch

Neben metallischen Rohstoffen, großen Mengen erneuerbarer Energie sowie der dazugehörigen massiven Infrastruktur braucht Dekarbonisierung, je stärker sie voranschreitet, umso mehr Land für nachwachsende Rohstoffe. Der Landverbrauch ist bisher vor allem auf sehr spezifischen Feldern wie der Biokraftstoffpolitik analysiert worden. Diese Analysen haben gezeigt, dass der Anbau von Agrartreibstoffen mit einem Verlust der Verfügungsgewalt von Kleinbäuer*innen über Land, einer Schwächung der Ernährungssouveränität sowie mit erheblichen sozial-ökologischen Belastungen wie Entwaldung, Wasserverschmutzung und Biodiversitätsverlust einhergeht. Zwar ist die Diskussion um Agrartreibstoffe hierzulande abgeebbt, trotzdem nimmt weltweit die Produktion derselben Jahr für Jahr zu (mit Ausnahme des Coronajahrs 2020) und im nächsten Jahrzehnt wird weiteres Wachstum vorausgesagt. Im Rahmen des »European Green Deal« wird außerdem erneut über höhere EU-Beimischungsquoten diskutiert, viele Dekarbonisierungsstrategien beinhalten deutlich mehr Agrosprit.

Verschiedene Politikstrategien, darunter die Bioökonomiestrategien, wollen im Zuge der Dekarbonisierung nachwachsende Rohstoffe nicht nur für Biokraftstoffe, sondern auch für eine Vielzahl an anderen stofflichen und energetischen Nutzungen einsetzen. Bisher überwiegt ein Bioökonomieverständnis, das darauf hinausläuft, fossile Rohstoffe durch nachwachsende zu ersetzen. Dabei wird allerdings oft ausgeblendet, dass dies schlicht unmöglich ist, weil derart große Landflächen gar nicht zur Verfügung stehen. Schon jetzt ist das verfügbare Ackerland der Erde knapp. Außerdem werden gegenwärtig Debatten um sozial-ökologische Krisen oft getrennt voneinander geführt und dabei die Flächen der Erde mehrfach verplant: Während Forscher*innen der ETH Zürich aus Klimaschutzgründen zusätzlich 900 Millionen Hektar Wald pflanzen wollen, schlagen Expert*innen für Artenvielfalt vor, 1,7 Milliarden Hektar Schutzgebiete für den Erhalt der Biodiversität auszuweisen. Gleichzeitig wollen die Befürworter*innen der Bioökonomie die Anbaufläche für nachwachsende Rohstoffe drastisch ausweiten.

Dass es im Zuge der Dekarbonisierung zu einer starken Zunahme sozial-ökologischer Konflikte, insbesondere um Land kommt, hat mit einem strukturellen Argument zu tun: Nachwachsende Energieträger haben im Vergleich zu fossilen einen um ein Vielfaches höheren Landverbrauch, eben weil sie eine deutlich niedrigere Energiedichte haben. So stellt der kanadische Umweltwissenschaftler Vaclav Smil insgesamt etwa 50 000 Quadratkilometer Landverbrauch für fossile Energie einem Landverbrauch von 398 000 Quadratkilometer für erneuerbare Energien gegenüber. Darunter fallen allein 263 000 Quadratkilometer für moderne Biokraftstoffe, 131 000 für Wasserkraft und 40 800 für Wind.

Somit ist der Landverbrauch der erneuerbaren Energien zum Zeitpunkt der Berechnung viermal so hoch wie der der fossilen – und das, obwohl erstere damals nur 3,8 Prozent der Energiemenge erzeugten. Viele dieser benötigten Landflächen werden im Globalen Süden belegt. Dadurch werden in unterschiedlichen Bereichen, die für Dekarbonisierung wichtig sind, extraktive Verhältnisse etabliert. Wenn zu der energetischen Nutzung auch noch eine stoffliche kommt, etwa durch die Substitution von Plastik auf Erdölbasis durch sogenanntes Bioplastik auf Grundlage erneuerbarer Rohstoffe, verschärft sich das Problem weiter. Je stärker die Dekarbonisierung voranschreitet, desto umfangreicher drohen auch der postfossile Extraktivismus und mit ihm die sozial-ökologischen Transformationskonflikte zu werden.

Ein Muster der Ausbeutung

Unter postfossilem Extraktivismus wird der mit hohen sozial-ökologischen Kosten einhergehende Ab- und Anbau von nachwachsenden Ressourcen, die großflächige Erzeugung erneuerbarer Energien, sowie der zugehörige metallische und mineralische Ressourcenbedarf gefasst. Hinzu kommt außerdem ein massiver Anstieg des Strombedarfs. Das verschärft wiederum die Konflikte um erneuerbare Energien mit ihrem hohen Flächenbedarf. So erleben insbesondere Staudammprojekte und Holzplantagen mit der Dekarbonisierung trotz ihrer problematischen sozial-ökologischen Auswirkungen ein Comeback. Sämtliche Bemühungen zur Dekarbonisierung verlangen zudem den Ausbau großflächiger Infrastruktur.

Beim Extraktivismus handelt es sich daher, in Anlehnung an Maristella Svampa, um ein Muster transnationaler Arbeitsteilung im gegenwärtigen Kapitalismus, der immer mehr Rohstoffe und Energie benötigt und deshalb in den ländlichen, peripheren Räumen der Welt einen immer stärkeren Druck auf die Naturressourcen und Territorien ausübt. Dadurch wird die ungleiche Position der Länder im Weltsystem vertieft und die gegenwärtige sozial-ökologische Krise weiter verschärft. In den Abbauregionen erscheint Extraktivismus als ein sozio-territoriales Modell, das auf der Überausbeutung von Naturressourcen beruht und die Ausweitung der Nutzungsgrenzen auf Gebiete vornimmt, die zuvor aus Sicht des Kapitals als unproduktiv galten. Dieses Extraktivismusverständnis akzentuiert die territoriale Dimension etwas stärker als andere Definitionen und unterstreicht, dass es sich um eine polit-ökonomische und sozial-räumliche Kategorie handelt, die transnationale Verhältnisse beschreibt.

Das Phänomen des Extraktivismus kann als ein Grundmuster der lateinamerikanischen Geschichte gelten, doch die Extraktivismusdebatte ist vor allem in den letzten zehn Jahren aufgekommen. Der Begriff wird vorwiegend kritisch verwendet, um auf die sozial-ökologischen Folgekosten einer umfangreichen Extraktion von Rohstoffen hinzuweisen.

Expandierender Agrarextraktivismus

Lange standen in der Extraktivismusdebatte die fossilen Brennstoffe Kohle, Erdgas und Erdöl sowie der Abbau von Metallen im Vordergrund. Doch in den letzten Jahren zeigen sich in noch viel mehr Feldern extraktivistische Muster. Dazu diskutieren verschiedene aktuelle Arbeiten den Begriff des Agrarextraktivismus, auch in Bezug auf Agrotreibstoffe. Dabei waren zunächst vor allem das in riesigen Plantagen angebaute Soja und Palmöl im Fokus, zuletzt aber auch Zuckerrohr, Zitrusfrüchte oder Schnittblumen. Gerade für den Agrarextraktivismus ist es wichtig, genauer zu bestimmen, was wie extrahiert wird. Das sind einerseits Nährstoffe im Boden, die in einem Maße entzogen werden, dass dieser sich nicht mehr regenerieren kann. Die UN erklärte 2015, Boden sei bei seiner Nutzung für intensive Landwirtschaft eine »nicht-nachwachsende Ressource«. Weil die Bodenqualität stetig sinkt und der Boden permanent übernutzt wird, kommen große Mengen Kunstdünger zum Einsatz. Agrarextraktivismus ist daher auf stofflicher beziehungsweise biophysikalischer Seite tatsächlich eine »Bergbau-Landwirtschaft«.

Durch die starke Abhängigkeit von fossilen Stoffen verschärft diese Form des Anbaus wiederum den klassischen Extraktivismus; zugleich kann sie trotz der hohen Mengen fossiler Inputs die Verschlechterung des Bodens nicht aufhalten. Agrarextraktivismus geht außerdem mit einer bestimmten Form der Produktion einher, die vom Agribusiness durchgesetzt wurde und darauf zielt, große Mengen an Waren für den Export zu produzieren. Dieser Export erfolgt ohne oder nur mit geringer Verarbeitung. Zudem ist eine hohe Konzentration der Wertschöpfungskette bei wenigen Unternehmen charakteristisch, während zugleich engere Wirtschaftsbeziehungen mit anderen Unternehmen vor Ort eher fehlen.

Außerdem führt Agrarextraktivismus zu einer Verschlechterung der Arbeitsmöglichkeiten und/oder Arbeitsbedingungen. Er setzt auf die Verwendung moderner Geräte und digitaler Technologien und trägt dadurch zu einer »Landwirtschaft ohne Bäuer*innen« bei. Nebenfolgen sind die Zerstörung der Böden, die Vergiftung des Wassers, Biodiversitätsverlust, Entwaldung und Landkonzentration. Durch die verbreitete Nutzung von Agrartreibstoffen sowie die verstärkte stoffliche und energetische Nutzung von Anbaubiomasse ist zukünftig eine Ausweitung des Agrarextraktivismus wahrscheinlich.

Wasser und Wälder

Etliche Arbeiten sprechen auch vom Extraktivismus im Forstbereich, insbesondere Analysen zu Chile. Dort wurden Landschaften, Ökosysteme und Mensch-Natur-Verhältnisse im Rahmen eines extraktivistischen Modells zu riesigen Baumplantagen privater Konzerne umgestaltet. Das Land dafür wurde früher von den indigenen Mapuche als extensive Viehweiden oder für Subsistenzlandwirtschaft genutzt und wird von ihnen als ihr historisches Territorium betrachtet. Folglich kommt es zu intensiven Konflikten um Land sowie um Wassernutzung.

Die Parallele zum Agrarextraktivismus liegt nicht nur in diesen Land- und Wassernutzungskonflikten und der starken und irreversiblen Umgestaltung großer Landflächen, um Produkte anzubauen, die primär in den Export gehen. Ebenso werden für diese Wirtschaftsform viel Land, aber kaum Arbeitskräfte benötigt. Lokale Gemeinschaften werden vertrieben, ökologische Kreisläufe verändert, die Produktion wird für den Weltmarkt angelegt und dabei wird an koloniale Muster angeknüpft. Diese Baumplantagen werden oft auch als Projekte der Wiederaufforstung deklariert und bisweilen aus Geldern des Clean Development Mechanism (CDM) mitfinanziert. Da Holz als nachwachsender Rohstoff auch als Baumaterial im Rahmen der Dekarbonisierung wieder stärker in den Blick gerät und zudem erste Kohlekraftwerke nun statt mit Kohle mit Holzschnitzeln betrieben werden, dürften die Auseinandersetzungen um Forstextraktivismus wohl zunehmen.

Außerdem lassen sich auch große Wasserkraftwerke als extraktivistische Projekte klassifizieren. Auch hier findet eine großflächige und irreversible Umgestaltung von Territorien statt. Etwa vier Millionen Menschen im Jahr werden aufgrund von Staudämmen umgesiedelt. Auch wenn Wasser nicht direkt angeeignet wird, ist es die Energie, die extrahiert und exportiert wird. Die Asymmetrie in den Machtbeziehungen sorgt dafür, dass die Gewinne an weit entfernten Orten abgeschöpft werden, während die Menschen vor Ort die sozial-ökologischen Kosten tragen. Weil große Staudämme selten zur lokalen Energie- und Wasserversorgung verwendet werden, sondern oft vor allem Sektoren wie den Bergbau oder die Agrarindustrie mit Strom versorgen, sind sie Teil der »Geographie des Extraktivismus«.

Wegen der problematischen Sozial- und Umweltauswirkungen waren große Staudammprojekte in den 1980er- und 1990er-Jahren heftig kritisiert und zwischenzeitlich von der entwicklungspolitischen Agenda gestrichen worden. Doch angesichts der Dekarbonisierung wurde ihnen zu einem Revival verholfen. Mittlerweile finanzieren Akteure wie die Weltbank und viele Privatbanken – sowie zunehmend auch chinesisches Kapital – Staudammprojekte. Diese Entwicklung wurde durch die Einrichtung des CDM noch einmal verstärkt. In diesem Rahmen können Industrieländer Investitionen in Entwicklungsländer tätigen, statt im eigenen Land Emissionen zu reduzieren. Dabei sind sektoral am stärksten Großprojekte im Bereich der Wind- und Wasserkraft finanziert worden – trotz ihrer problematischen sozial-ökologischen Kosten. Denn es gibt einen neuen Konsens, dass Energie durch Wasserkraftwerke Bestandteil einer low-carbon-Strategie ist.

Grüne Narrative

Durch die vielen Gemeinsamkeiten, die sich bei den Mustern der Durchsetzung und den Folgen von Agrarextraktivismus, von großen Staudammprojekten, von großflächigen Forst- und Biomasseplantagen und den zugehörigen Infrastrukturen abzeichnen, liegt es nahe, diese Projekte auf einen gemeinsamen Begriff zu bringen: »postfossiler Extraktivismus«. Dies ist eine Entwicklungsstrategie, die die Inwertsetzung ländlicher, peripherer Räume auf der Basis von Land und erneuerbaren sowie bio-basierten Ressourcen vorantreibt und zur Dekarbonisierung beiträgt. Dazu zählt auch der intensive, großflächige Abbau von metallischen und mineralischen Rohstoffen für die entsprechenden Technologien.

Der postfossile Extraktivismus geht einher mit einem Entwicklungsversprechen, insbesondere von Wohlstand und Arbeitsplätzen für die jeweiligen Regionen. Vor Ort spielen die klima- und umweltpolitischen Begründungen für die jeweiligen Projekte eher eine nachgeordnete Bedeutung – anders als es Vorschläge aus der Debatte wie etwa »Öko-Extraktivismus«, »renewables extractivism«, »grüner Extraktivismus« oder »alternativer Extraktivismus« nahelegen. Postfossil beschreibt die stofflich-materielle Grundlage des Extraktivismus, die aber nichts an den Durchsetzungsformen und sozial-ökologischen Auswirkungen ändert. Ökologisch beziehungsweise »grün« ist jeweils nur das entsprechende Narrativ, mit dem die Projekte einhergehen.

Insofern befinden wir uns nicht in einer Phase des postfossilen Extraktivismus, sondern der postfossile Extraktivismus nimmt in dem Maße zu, in dem die Dekarbonisierung vorangetrieben wird. Bislang ergänzt er den fossilen Extraktivismus lediglich, denn der Ausstieg aus Kohle und Öl ist zwar in über 100 Ländern angekündigt, doch deren Fördermengen gehen im Weltmaßstab noch nicht zurück. Postfossile Energien haben eine geringere Energiedichte als fossile Energieträger und Dekarbonisierung benötigt große Mengen (erneuerbarer) Energie. Daher werden der Zugriff auf Land und damit auch die sozial-ökologischen Konflikte mit fortschreitender Dekarbonisierung wohl stark zunehmen, denn die bisher betriebene Form der Dekarbonisierung benötigt erhebliche Mengen an Rohstoffen und belegt dafür große Flächen Land, insbesondere zur Energieerzeugung.

Extraktive Verhältnisse durchbrechen

Hinsichtlich der sozial-ökologischen Folgen vor Ort – die Zerstörung von Ökosystemen, die Verunmöglichung von bisherigen livelihood-Strategien, der Verlust von Ernährungssouveränität und Biodiversität – unterscheiden sich verschiedene Extraktivismen kaum. Konflikte rund um postfossilen Extraktivismus machen schon jetzt (ohne den metallischen Bereich) weltweit etwa 40 Prozent der sozial-ökologischen Konflikte aus.

Nun bestehen etliche dieser Konflikte schon länger, als es das Konzept der Dekarbonisierung gibt, dennoch zeigt sich aktuell eine Zuspitzung. Deshalb sollten auch diese sozial-ökologischen Konflikte als Transformationskonflikte betrachtet werden, statt diesen Begriff nur für die Auseinandersetzungen um die Kohle- und Autoindustrie hierzulande zu verwenden. Viele gesellschaftliche Umbrüche – darunter auch die Dekarbonisierung – gehen mit einem spezifischen Nord-Süd-Verhältnis einher, das nicht aus dem Blick geraten sollte. Zudem unterstreicht die Konzeptionalisierung als sozial-ökologische Transformationskonflikte, dass diese nicht der Vergangenheit angehören, sondern sich in der Zukunft wohl intensivieren werden.

Wenn man den strukturellen Zusammenhang zwischen Dekarbonisierung und sozial-ökologischen Kosten im Globalen Süden herausarbeitet, nimmt man noch lange nicht die Regierungen der Südländer aus der Verantwortung. Wie schon im Zuge der Extraktivismusdebatte gezeigt wurde, haben sowohl die Regierungen als auch die herrschenden Klassen selbst ein Interesse an der Vertiefung extraktiver Projekte und treiben diese aktiv voran – sei es, um Staatseinnahmen zu generieren, oder schlicht, um selbst Gewinn zu machen. Zudem gibt es auch in Ländern des Südens Dekarbonisierungsbestrebungen, die nicht nur aufgrund internationaler Machtbeziehungen und Weltmarktbedingungen zustande kommen, sondern mitunter vom Wunsch nach Energiesouveränität oder Klimaschutz motiviert sind.

Solange Dekarbonisierung so gestaltet wird, dass sie lediglich den Versuch darstellt, fossile Muster auf eine biobasierte Grundlage zu stellen, trägt sie dazu bei, extraktive Verhältnisse fortzuschreiben. Denn bislang wird nur die materiell-stoffliche Basis der Wirtschaft graduell geändert, die gewachsenen Infrastrukturen, Sozialbeziehungen und Erwartungshaltungen werden jedoch nicht verschoben, auch weil mächtige Akteure versuchen, daran um jeden Preis festzuhalten. Zu einer Vervielfältigung der Konflikte kommt es durch die strukturell höhere Energiedichte fossiler Stoffe im Vergleich zu nachwachsenden oder erneuerbaren. Eine sozial gerechte Ausgestaltung der Dekarbonisierung müsste diesem Umstand Rechnung tragen, statt zu suggerieren, das gegenwärtige Produktions- und Konsummodell ließe sich fortführen – nur eben auf anderer Rohstoffbasis.

Stattdessen bedarf es einer gezielten politischen Gestaltung der sozial-ökologischen Transformation. So machen Beimischungs- und Recyclingquoten oder die Ausgestaltung des Lieferkettengesetzes durchaus einen Unterschied. Noch gravierender würde sich beispielsweise eine echte Verkehrswende auswirken – weg von der individuellen Automobilität statt einer bloßen Antriebswende. Am wichtigsten ist dabei die Frage, ob Politik hierzulande die Weichen zu einer drastischen Reduzierung des Energie- und Rohstoffverbrauchs stellt. Danach sieht es bisher jedoch nicht aus.

Der Artikel ist eine gekürzte Version des Beitrags »Postfossiler Extraktivismus? Die Vervielfältigung sozial-ökologischer Konflikte im Globalen Süden durch Dekarbonisierung«, erschienen in Prokla 210: Sozial-ökologische Transformationskonflikte und linke Strategien. 53. Jg., Heft 1, März 2023, Bertz + Fischer, 196 S., 15 €.