nd-aktuell.de / 13.03.2023 / Politik / Seite 1

Nato besorgt wegen Munitionsnachschub

Washington fordert von der Industrie Erhöhung der Produktionskapazitäten

Anjana Shrivastava
Ukrainische Soldaten mit einem Javelin-Raketenwerfer am 20. Februar
Ukrainische Soldaten mit einem Javelin-Raketenwerfer am 20. Februar

Das transatlantische Sicherheitsestablishment hat Grund zur Sorge: Die Kapazitäten der Rüstungsindustrie reichen offenbar nicht aus, um den Krieg in der Ukraine in derselben Intensität fortzuführen. Vor allem die Munitionsvorräte in den USA sind auf ein solch niedriges Niveau gefallen, dass dies für Unruhe im Pentagon sorgt, da man sich auf einen Konflikt mit China unzureichend vorbereitet fühlt. Die Agentur Bloomberg berichtet, dass eine Erhöhung der Industriekapazitäten zur Waffenproduktion ein Haupt-Gesprächspunkt beim Treffen zwischen US-Präsident Biden und Bundeskanzler Scholz[1] gewesen sei.

In den 90er Jahren, als die USA zur alleinigen Supermacht wurden, konzentrierte sich die Verteidigungsindustrie in den USA durch Fusionen im Wesentlichen auf fünf große Rüstungskonzerne. Von den rund 30 Milliarden Dollar US-Militärhilfe für die Ukraine gingen Bestellungen im Umfang von 8 Milliarden Dollar nur an Lockheed Martin und Raytheon. Lockheed Martin meldet für das Jahr 2022 einen Reingewinn von 1,9 Milliarden, Raytheon von 1,4 Milliarden Dollar. Inzwischen haben große Rüstungsfirmen gegenüber dem Pentagon eine enorme Marktmacht. Folglich sind sie kaum bereit, lediglich auf Basis von Versprechungen der Politik die Kapazitäten für die Waffenproduktion massiv aufzubauen[2], sie bestehen auf Abnahmegarantien.

Die Bestände schrumpfen

In der Ukraine wurden mittlerweile so viele Javelin-Raketen abgeschossen, wie in sieben Jahren produziert werden können, bei Luft-Boden-Raketen vom Typ Stinger entspricht der Verbrauch der Exportproduktion von 20 Jahren. Der Hersteller Raytheon behauptet, dass der Ersatz mindestens zwei Jahre dauern wird. In Russland redet man über Truppenmobilisierung; in den USA dagegen ist immer öfter von einer notwendigen »Mobilisierung der Industrie« die Rede.

Die Warnungen aus Washington an die Hersteller werden daher immer lauter. Admiral Daryl Caudl, Chef des US-Flottenkommandos, befürchtet, dass in einem Seekrieg mit China die Vorräte von bestimmten Anti-Schiff-Raketen bereits innerhalb einer Woche verbraucht sein könnten. Daher sorgt sich Caudl um den Abschreckungseffekt Richtung Peking. Ein Bericht des Thinktanks CSIS aus Washington untermauert Caudls Befürchtungen. Die Lieferungen von 155-Millimeter-Munition für die Ukraine haben die US-Bestände stark reduziert; das Pentagon musste im Januar sogar Vorräte in Israel und Südkorea antasten, wodurch man ungewollte mediale Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Situation in Taiwan ist zudem anders als in der Ukraine, die immerhin noch beliefert werden kann. China würde aber im Konfliktfall Taiwan sofort abschotten. Also müsste Taiwan noch vor einem Kriegsausbruch beliefert werden. Doch haben 19 Milliarden Dollar an Rüstungsgütern, die im Jahr 2019 von Taiwan bestellt wurden, die USA noch immer nicht verlassen.

Pentagon macht Druck

Admiral Caudl kritisiert die Rüstungsindustrie, die mit Ausreden über gestörte Lieferketten und pandemiebedingte Probleme schnell zur Stelle sei: »Mir ist es einfach wirklich egal«, sagte Caudl auf einer Konferenz des Militärforschungsverbands Surface Navy Association. Der Thinktank CSIS gibt zu bedenken, dass die US-Regierung aber an vielen Verzögerungen auch selbst schuld sei: Die strengen Export-Regulierungen ließen 18 bis 24 Monate verstreichen, bis Waffen an die Front kämen. »Die Regierung ist risikoscheu, ineffizient und träge«, so der Analyst Seth Jones. Sie habe sich noch keine »Kriegsmentalität« zu eigen gemacht. Auch der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius spricht über den Bedarf der Bundeswehr mittlerweile in ähnlichem Duktus. Auf Nachfrage, wo das Geld jenseits des 100-Milliarden-Sondervermögens herkommen soll, antwortet Pistorius laut »Spiegel« – ganz nach Caudl –, dass ihm das »egal« sei.

Bidens Berater für nationale Sicherheit, Jake Sullivan, hielt kürzlich eine Rede an der Georgetown University in Washington, wo er über die ehrgeizigen Pläne des US-Präsidenten sprach, die Außen- und die Industriepolitik zu verschmelzen. Sullivan verglich Bidens Vorhaben mit den Plänen von US-Präsident Harry Truman für eine solche Koordinierung aus dem Sommer 1947, zu Anfang des Kalten Krieges. Ob eine Ausweitung der Rüstungsproduktion die USA und die Welt wirklich sicherer macht, wird in großen US-Medien kaum mehr hinterfragt.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1171454.scholz-in-washington-geraeuschlose-teamarbeit.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1169479.usa-rekord-budget-fuer-das-pentagon-beschlossen.html