nd-aktuell.de / 17.03.2023 / Politik / Seite 1

Die Taufe, die keine war

1946 wurde in der Osloer Ullern-Kirche ein jüdisches Mädchen christlich getauft, damit ihr kommunistischer Vater sie nach dem Krieg heimholen konntee

Karsten Krampitz
Ingers Taufe war nicht echt – aber ohne sie hätte die Tochter der jüdischen Kommunistin Edith Raphael nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zu ihrem Vater Hans Holm zurückkehren können.
Ingers Taufe war nicht echt – aber ohne sie hätte die Tochter der jüdischen Kommunistin Edith Raphael nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zu ihrem Vater Hans Holm zurückkehren können.

Ullern ist ein westlicher Stadtteil von Oslo, der norwegischen Hauptstadt. Gerade einmal an die 35 000 Einwohner leben hier. In der ganzen Welt bekannt wurde Ullern durch die Künstlerkolonie Ekely: Der Maler Edvard Munch hatte hier sein Winteratelier. »Der Schrei«, sein berühmtes Werk, erzählt von der existentiellen Angst des modernen Menschen, von der Angst, im Universum allein zu sein, ohne Gott. Womöglich hat der Künstler bisweilen Trost in der Ullern-Kirche gesucht, oben auf dem Hügel. Die kreuzförmige romanische Kirche bietet Platz für achthundert Menschen.

Bei unserem Besuch aber sind wir die einzigen Gäste. Der 82-jährige Terje Halvorsen begleitet uns – als Freund und Reiseführer. Sein Vater war einmal Chef des kommunistischen Jugendverbandes. Er selbst ist emeritierter Geschichtsprofessor, sein Forschungsgegenstand der norwegische Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Und er ist in Eile. Sein Urenkel hat seinen ersten Geburtstag. »Ich muss noch einen blinden Hasen kaufen«, scherzt er und meint damit ein Plüschtier ohne Knopfaugen. (Die Mutter des Kindes will nicht, dass der Kleine irgendetwas verschluckt.)

Uns bleibt also nicht viel Zeit in Ullern. Die Kirche, sagt Terje Halvorsen, sei 1903 gebaut worden, »von einem vom königlichen Hof«. Dieser Mann habe der Gemeinde das Grundstück geschenkt, worauf die Kirche dann gebaut wurde. Die Geschichte des Protestantismus in Norwegen gehört nicht zu seinem Fachgebiet. Aber deshalb sind auch wir nicht hier. »Wir«, das sind die achtzigjährige Inger und der Autor. Inger, die viele Jahre als Ingenieurin in Kraftwerken der DDR gearbeitet hat, ist nach dem Zweiten Weltkrieg in dieser Kirche getauft worden. Im Rahmen eines Forschungsprojekts der Rosa-Luxemburg-Stiftung suchen wir nach Spuren, die ihre Eltern in Oslo hinterlassen haben. Beide waren Kommunisten, noch dazu ist Inger mütterlicherseits jüdischer Herkunft. Warum also die Taufe?

Getaufte Atheistin

Die Küsterin führt uns durch das Kirchenschiff, die Decke ist sehr hoch und erhaben. Irgendwie schade, dass Gott nie in die Kirche geht. Wir erfahren, dass die Gemeinde hier drei fest angestellte Pastoren hat, die in der Woche mit Taufen und Hochzeiten beschäftigt sind und mit Beerdigungen; draußen hinter der Kirche liegt der Friedhof. Sonntags ist Gottesdienst, der ganz unterschiedlich besucht sein soll. Bloß keine Zahlen nennen!

Die Dame führt uns zum Taufbecken. Die Taufe gilt als die festliche Aufnahme eines Menschen in die christliche Gemeinde. Beim Taufgottesdienst gießt der Pfarrer – heutzutage kann es auch eine Pfarrerin sein – ein paar Tropfen Wasser über den Kopf des Täuflings. Das Ritual geht zurück auf die Bibel, auf die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer. Jesus selbst aber hat nie einen anderen Menschen getauft, jedenfalls ist nichts davon überliefert.

»Wir müssen gestehen«, sagt Inger, »dass wir alle Atheisten sind.« Der Professor übersetzt. Unsere Gastgeberin zeigt sich nicht überrascht. »Nicht alle«, insistiert der Autor und beharrt darauf, Agnostiker zu sein. Professor Halvorsen lacht und wiederholt auf Norwegisch. Die Dame von der Ullern-Kirche hebt die Augenbrauen, und der Autor gibt sich Mühe zu erklären. »Der Atheist glaubt, dass es Gott nicht gibt. Der Agnostiker glaubt nicht an Gott, was ein feiner Unterschied ist.« Inger schüttelt den Kopf. »Das mag ja sein«, sagt sie mit resoluter Stimme, »aber auf mich trifft das Erste zu.« Inger glaubt, dass Gott nicht existiert. Aber immerhin ist sie christlich getauft, wohingegen sich der Schreiber dieses Artikels eines Tages womöglich (und zwar am jüngsten!) vor dem Allerhöchsten erklären muss.

Aber vielleicht würde sich Gott dann auch erklären. Immer wieder die große Frage: Wenn Gott allmächtig ist, warum dann Auschwitz? Außerdem hätte er am 19. Juni 1946 gewusst, dass diese Taufe nicht dem Glauben dient und damit nicht »echt« ist – im Gegensatz zur silbernen Taufschale. Inger hat keine Erinnerungen mehr an diesen Tag, fragt sich aber, ob sie mit dreieinhalb Jahren weinte, als man sie über das Taufbecken hielt.

Was für eine Familiengeschichte!

Ingers Mutter, die Kommunistin Edith Raphael, wurde vor 80 Jahren in Auschwitz ermordet, am 3. März 1943. Auf der Flucht vor den Nazis hatte sie in Oslo im Exil gelebt. Nach der Invasion der deutschen Wehrmacht war sie in den Untergrund gegangen. Hier in Norwegen hatte sie auch Ingers Vater kennengelernt, den KPD-Mitbegründer und Verleger Hans Holm. Er war führend an einer illegalen Organisation beteiligt, die bedrohten Menschen, darunter vielen jüdischen, die Flucht nach Schweden ermöglichte.

Was hat er ihr von der Taufe erzählt? »Gar nichts«, sagt Inger. »Er hat es nur aufgeschrieben, und da habe ich es dann gefunden.« Sie besitzt einen silbernen Kinderlöffel, auf dem der 19. Juni 1946 eingraviert ist. Ein Geschenk der Familie Lund, wie Inger glaubt. Sigrid Helliesen Lund hat nach der Verhaftung von Ingers Eltern das jüdische Baby in einem evangelischen Kinderheim versteckt. Später hat sie Inger auch formal adoptiert.

Sigrid Helliesen Lund war eine Quäkerin. Also glaubte sie, dass in jedem Menschen das Licht Gottes wohnt. 2006, nicht ganz zwanzig Jahre nach ihrem Tod, wurde sie in Israel in der Gedenkstätte Yad Vashem zu einer der Gerechten unter den Völkern ernannt. In Oslo soll jetzt ein Platz nach Sigrid Helliesen Lund benannt werden. Inger und viele andere Menschen jüdischer Herkunft haben ihr Leben dieser mutigen Frau zu verdanken. Deren eigener Sohn aber, der heute hochbetagte Bernt H. Lund, hatte vom Widerstand seiner Mutter nicht die geringste Ahnung. Was für eine Geschichte!

In Auflehnung gegen die Deutschen und irgendwie auch gegen seine angeblich opportunistischen Eltern hatte der nicht einmal achtzehnjährige Bernt Flugblätter verbreitet. Die deutschen Besatzungsbehörden nahmen ihn fest und deportierten ihn später ins KZ Sachsenhausen, wo er tatsächlich auf Ingers Vater traf: auf den Deutschen Hans Holm, der nach seiner Einlieferung ins Konzentrationslager auf wundersame Weise den »Norweger-Baracken« zugeteilt worden war. Inger meint, ihr Vater wäre als Deutscher im KZ Sachsenhausen nicht am Leben geblieben. »Weil sie dann herausgefunden hätten, dass er Mitbegründer der KPD war, die sie eigentlich gesucht haben.«

Als Norweger durfte Hans Holm alle 14 Tage einen Brief von einer »Tante« erhalten – von Sigrid Helliesen Lund. Nach dem Krieg schrieb Holm seiner Tochter: »So erfuhr ich im KZ, dass du lebst und dich gut entwickelst. 1943 erhielt ich in einem Kilopäckchen, was wir empfangen durften, in einer Keksrolle versteckt ein Foto von dir. Eine junge Schwester hielt dich auf dem Arm. Das Foto war 1cm groß. Ich hab es leider nicht mehr. Die Freude war natürlich groß, ich war überglücklich.« Und so geschah es, dass Hans Holm im Konzentrationslager auf den jungen Bernt Lund achtgab, während sich dessen Mutter daheim in Norwegen um Inger kümmerte.

Kein Mensch ist vergessen

Ingers Vater und Bernt Lund überlebten das Konzentrationslager Sachsenhausen. Lund trat der sozialdemokratischen Partei bei, wurde Finanzstadtrat von Oslo und eines Tages der erste norwegische Botschafter in Namibia. Wir haben ihn und seine Familie besucht. Er ist inzwischen 98, aber an Inger und ihre Geschichte kann er sich noch erinnern. Für ein paar Jahre war sie, formal gesehen, seine Stiefschwester. Der Nachmittag bei den Lunds war sehr bewegend, vor allem als Inger und Bernt sich zum Abschied umarmten, wusste doch jeder im Raum, dass es kein Wiedersehen geben wird.

Aber kein Mensch ist vergessen; Edith Raphael nicht und auch nicht Hans Holm. Als er nach der Befreiung seine dreijährige Tochter nach Deutschland holen wollte (die DDR gab es noch nicht), fehlten ihm die Papiere. Inger hatte keine Geburtsurkunde, die seine Vaterschaft bestätigt hätte. Daher die Taufe.

Vorher aber musste Holm erst einmal den norwegischen Pass beantragen, da seine Tochter durch die Adoption von Sigrid Helliesen Lund Norwegerin war. Einer der zwei Bürgen für die Erlangung der norwegischen Staatsbürgerschaft war der Vater unseres jetzigen Begleiters, des Historikers Terje Halvorsen. Erst danach konnte die Taufe stattfinden. Die Taufurkunde war ein wichtiges Dokument. An dem Tag kam wohl kein Bündnis mit Gott zustande. Das Band aber zwischen Tochter und Vater, das die Nazis zerstört hatten, wurde jetzt amtlich besiegelt. Das Mädchen Inger durfte heim.