nd-aktuell.de / 17.03.2023 / Berlin / Seite 1

Das Ende der Berliner Weltkultur

Mit Multicult.fm steht eine interkulturelle Radiostimme aus der Hauptstadt auf der Kippe

Dirk Engelhardt
Bittere Ironie: Auch der Multicult.fm-Vorgänger Radio Multikulti wurde 14 Jahre nach seiner Gründung abgeschaltet.
Bittere Ironie: Auch der Multicult.fm-Vorgänger Radio Multikulti wurde 14 Jahre nach seiner Gründung abgeschaltet.

Die Auswahl an Radiosendern in Berlin ist riesig. Fast alle sind dabei deutschsprachig und richten sich an ein Publikum, das Deutsch versteht. Nicht so das gemeinnützige und nichtkommerzielle Radio Multicult.fm, das täglich vier Stunden auf 91,0 MHz sendet und ansonsten übers Internet zu empfangen ist. Das könnte bald Geschichte sein, denn Multicult.fm steht vor dem Ende. Das vorläufige Insolvenzverfahren läuft.

Die Finanzierung des 2009 ins Leben gerufenen Multicult.fm Weltkulturradio war immer schwierig, sagt Senderchefin Brigitta Gabrin. »14 Jahre lang haben wir den Radiobetrieb zum Großteil durch ehrenamtlichen Einsatz am Leben gehalten, ohne jede Grundsicherung, allein durch Spenden und projektbezogene Fördermittel.« Gabrin ist enttäuscht. Nicht zuletzt, weil ihre Arbeit und die ihrer Sender-Kolleginnen und -Kollegen so wenig Wertschätzung durch Medienpolitik und Wirtschaft erfahren hat. »Für zu viele waren wir leider nur ein Vorzeigeobjekt, wenn mediale Diversity nachgewiesen werden sollte.«

14 Jahre – ebenso lange währte auch die Zeit des Multicult.fm-Vorgängers Radio Multikulti. Eine bittere Ironie des Schicksals, findet Brigitta Gabrin, die schon bei Radio Multikulti als Moderatorin gearbeitet hat. Aber auch eine herbe Enttäuschung für alle Befürworter der Vielfalt im Land Berlin. Zur Erinnerung: Schon Radio Multikulti wirkte ab 1994 der hauptstädtischen Deutschdominanz im Hörfunk entgegen, ein vielbeachtetes Programm des damaligen Sender Freies Berlin (SFB), für das der erste Wellenchef Friedrich Voß gegen viele Widerstände im Haus erfolgreich gekämpft hatte.[1] Bis 17 Uhr war die Moderatorensprache Deutsch, abends dann wurde in verschiedenen Sprachen gesendet. Die Musik – ob Salsa, Tango oder Bollywood – machte den Sender unverwechselbar, denn sogenannte Weltmusik war auf kaum einem anderen Sender zu hören. Auch die Wortbeiträge aus dem multikulturellen Berlin waren hörenswert – der Autor dieser Zeilen war einst Stammhörer von Radio Multikulti.

2008, eben auch nach 14 Jahren, kam dann das Aus für den beliebten Sender. Der durch die Fusion des SFB und des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg entstandene RBB wollte damit zwölf Millionen Euro sparen, die er pro Jahr für die Welle ausgab. Die Proteste gegen die Schließung der Radiostation waren riesig. Unter anderem schrieben der Schriftsteller Wladimir Kaminer, die CDU-Politikerin Rita Süßmuth und die Moderatorin Dunja Hayali einen Prominentenappell, um den Sender zu erhalten. Es nutzte nichts. Radio Multikulti wurde eingestellt. Volksmusik und Rosamunde Pilcher haben Priorität beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk, um es mal etwas überspitzt auszudrücken.

In Deutschland gibt es von öffentlich-rechtlicher Seite seitdem nur noch das ehemalige Funkhaus Europa des WDR, heute Cosmo, das ein ähnliches Konzept verfolgt. Auch der RBB ist laut Rundfunkstaatsvertrag verpflichtet, ein Hörfunkprogramm mit dem Schwerpunkt kulturelle Vielfalt anzubieten. Deshalb übernimmt man das von WDR und Radio Bremen produzierte Cosmo-Programm und steuert eigene Teile bei. Dem Vorwurf, nicht genug für Berliner mit Migrationsgeschichte zu tun, widerspricht der RBB: »Menschen mit Migrationshintergrund sind für uns Bewohnerinnen und Bewohner Berlins und Brandenburg wie alle anderen auch«, heißt es von der Pressestelle. Und weiter: »Wenn ein Thema, das primär migrantische Communities bewegt, die nötige Fallhöhe erreicht, findet es Eingang in unser Programm, in die ›Abendschau‹, ins Inforadio oder die anderen Radioprogramme.« Nun, alles andere wäre auch seltsam.

In einer Stadt mit rund 40 Prozent Ausländeranteil eine Welle extra für diese Zielgruppe einzurichten – solche Gedanken gibt es in der öffentlich-rechtlichen Anstalt gar nicht mehr. Und mit Multicult.fm, das unmittelbar nach der Abschaltung von Radio Multikulti am 31. Dezember 2008 auf Sendung ging, könnte nun auch die letzte Berliner Weltkulturwelle verschwinden.

Nachdem eine Zeit lang ein Hausboot auf der Spree, die MS »Heiterkeit«, als Multicult.fm-Sendezentrale diente, ist man nun in der Marheineke-Markthalle in Kreuzberg beheimatet.[2] Das »Morgenmagazin« sendet live aus dem gläsernen Studio in der Markthalle, der Moderator Gió di Sera, der schon bei Radio Multikulti dabei war, hat eine Sendung »Radio Kanaka«, abends läuft »Beat Latino« mit lateinamerikanischer Musik, DJ Dore Stein macht die Sendung »Tangents« mit Weltmusik. Das Jugendmagazin »Culture Clash« wird von unterschiedlichen Jungmoderatoren, oft ehemaligen Praktikanten, produziert, die inzwischen in aller Welt verteilt sind.

Im Format »Multicult Plaza« werden Gesprächsrunden mit Politikern, Kleinkunst oder Bühnenshows live gesendet. In den offenen Redaktionsräumen hat sich mit der »Multicult Plaza« ein Ort etabliert, wo Geflüchtete auf Berliner treffen, gemeinsam Radio machen lernen oder im »Café on Air« zuhören. Die »Multicult Plaza« wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) jährlich mit 50.000 Euro gefördert. Solche Zuschüsse gab es immer mal wieder. Doch mit diesem Stückwerk kann auf Dauer kein regelmäßiger, anspruchsvoller Radiobetrieb gewährleistet werden. Dazu kam Corona. Wegen der Pandemie kamen Gelder von EU-Fördertöpfen nicht an.

Multicult.fm leistet dabei politische Arbeit in Krisenzeiten: Hochaktuell und sogar lebenswichtig ist der Podcast »Kyiv-Berlin Transit«, der sich an in Deutschland lebende Ukrainerinnen richtet und auf Ukrainisch verfasst ist. Neben Ukrainisch sprechen Moderatoren bei Multicult.fm auch Spanisch, Serbisch, Englisch, Türkisch, Portugiesisch, Französisch, Swahili, Ungarisch, Polnisch und Singhalesisch.

»Der Grund, warum wir uns gerade jetzt in dieser schlimmen Schieflage befinden, ist eine Häufung von unglücklichen Entwicklungen. Aber die Basis dafür war schon lange gesetzt: Trotz zig Anträgen, Brandbriefen und parteiübergreifenden Gesprächen gab es für uns keine auch noch so geringe Regelfinanzierung«, sagt Brigitta Gabrin zur finanziellen Notsituation.

Ein weiterer Grund sei der starke Rückgang des ehrenamtlichen Engagements durch die Krisen der vergangenen Jahre gewesen. Da hilft es auch nicht, dass die Marheineke-Markthalle mit ihrem »eigenen« Radio einzigartig in Europa und zudem eine äußerst kulante Vermieterin ist, die in der vorläufigen Insolvenz verständnisvoll reagiert.

Aber warum hat man nicht Werbung geschaltet, um das Überleben des Senders zu sichern? Das hätte Gabrin zufolge den Verlust von Hörerschaft bedeutet. Auch die Mitarbeiter hätten das nicht mitgemacht. »Ehrenamtliche Arbeit und kommerzielle Werbung ist ein Widerspruch per se.« Man habe zwar versucht, weniger störende Werbung wie Patronate für bestimmte Sendungen einzuführen. Doch dies habe nicht richtig funktioniert, weil es im Frequenzfenster on air verboten war. Ein Problem bei einem Internetradio ist zudem, dass sich Hörerzahlen nicht erfassen lassen wie bei »normalen« Radiosendern. »Selbst Lotto-Mittel haben wir nicht bekommen, da wir – obwohl werbefrei und gemeinnützig – rein gesetzlich ein privater Radiosender sind. Uns zu unterstützen und die kommerziellen Radios nicht, hätte eine Wettbewerbsverzerrung bedeutet«, klagt Gabrin.

Das Radio wählte also den mühsamen Weg der Querfinanzierung durch Projekte, gefördert aus unterschiedlichen Töpfen: EU, Land Berlin, Bamf. Die über 20 bisher erfolgreich realisierten Medienkompetenz-Projekte richteten sich an unterschiedliche Zielgruppen: Quereinsteiger, Schüler aus Willkommensklassen, Frauen mit Mitgrationsgeschichte oder Langzeitarbeitslose. »So sind wir zur Talentwerkstatt geworden«, sagt Gabrin, denn viele junge Menschen hätten nach dem Moderationstraining bei Multicult.fm inzwischen feste Stellen bei großen Medienhäusern oder sie produzierten ihre eigenen Formate – erfolgreich, was Hörerpost aus aller Welt beweist.

Dieser Tage gibt es noch mehr Hörerpost als sonst – voller Hoffnung, dass das Radio in letzter Minute eine Finanzierungsquelle findet. Team und Hörerschaft sind der Überzeugung, dass ein Radio wie Multicult.fm gerade jetzt, wo Berlin immer internationaler wird, zur Lösung großer Probleme unserer Zeit beitragen kann.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/507591.radio-multikulti-geht-am-montag-auf-sendung.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/951566.vom-tresen-ins-radio.html