nd-aktuell.de / 19.03.2023 / Kultur / Seite 1

Mehr Klarheit geht nicht

In Bern gibt es Bilder von Paul Klee über den »Rausch der Technik« sowie parallel das Spätwerk von Joan Miró

Christel Sperlich
Paul Klee: Muttertier, 1937, Ölfarbe auf Grundierung auf Papier auf Karton
Paul Klee: Muttertier, 1937, Ölfarbe auf Grundierung auf Papier auf Karton

Wie eine Landschaftsskulptur sehen sie aus, die drei ausladenden, vom Boden aus aufschwingenden Hügel. Natur oder Kunstbauten? Dem italienischen Stararchitekten Renzo Piano erschien das freie Gelände am Rande der Schweizer Stadt Bern als eine Skulptur und das Feld ringsum wie eine dazu passende Landschaft. »Fruchtland« heißt das ungewöhnliche Bauwerk, das sich mit sanftem Schwung in die hügelige Landschaft vor den Toren der Schweizer Hauptstadt schmiegt: das Zentrum Paul Klee. Sein Atem sei zu weit und groß, um ihn in einem normalen Gebäude einzusperren, so Renzo Piano über Paul Klee. Dieser sei für ihn ein »Poet der Stille«, ein Maler der sanften Töne. Sein Wesen und Schaffen habe den Architekten zu seiner wellenförmigen Architektur inspiriert.

Hinter einer großen Glasfassade des Gebäudes liegen großformatige Zeichenblätter auf dem Boden. Kinder klecksen fröhlich und ausgelassen Farbe darauf, tapsen mit Pinseln und den eigenen Händen die Flächen rauf und runter. Bespritzen oder glätten die Flächen. »Das Glasatelier« ist ein Ort, wo die Jüngsten in Kontakt mit Flächen, Formen und Farben kommen und selbst gestalterisch tätig sein können. Kinderbilder gehörten zu Klees Vorbildern.

»Er war ein Suchender«, meint Dominik Imhof, Leiter der Kunstvermittlung im Zentrum. »Er wollte, daß die Bilder durch Farbe, Formen und Linien sprechen. Er bringt Räumliches auf die Fläche. Reduziert auf das, was das Auge schärft und sieht. Nicht das, was der Betrachter glaubt zu sehen, sondern was ihm über Farbe und Bildtitel ermöglicht, eine eigene Wirklichkeit zu erschaffen.«

1879 geboren, erlebte Klee eine Zeit großer technologischer Errungenschaften. Apparate, Automaten, Röntgenstrahlen und Elektrizität bestimmten das Bild der Industrialisierung. Der Künstler begegnete der technischen Entwicklung durchaus interessiert, jedoch auch mit kritischer Distanz. So verbinden sich Telefonkabel, Schräubchen und Rädchen zu rätselhaften Gebilden. Seine Skepsis findet sich wieder in kritischen, ironischen Zügen in der Hinwendung zu den strengen Gesetzen des Konstruktivismus.

Die Ausstellung vom »Rausch der Technik« zeigt in fünf Kapiteln, wie sich Roboter und Cyborgs, Mechanik und Dynamik, Fotografie, Mikroskopie und Röntgen, Geometrie und Konstruktion sowie Rhythmus und Polyphonie, Phänomene der Moderne, in Klees Werken widerspiegeln. Sie werfen auf ironische Weise gesellschaftlich relevante Fragen des modernen Fortschritts auf. Dies zeigt sich beispielsweise in den zahlreichen geometrischen Zeichnungen des Malers. Auch neue Techniken wie die Mikroskopie und Röntgenaufnahmen, die die Oberfläche eines Gegenstandes durchdringen, interessierten den Künstler. Sie erweiterten den Begriff des Sehens um Bilder, die das menschliche Auge nicht wahrnehmen kann. Kunst würde »nicht das Sichtbare wiedergeben, sondern sichtbar machen«, war seine Devise.

Zu den beliebtesten Werken des Künstlers gehören seine Engel. Es sind geflügelte Erscheinungen, ein wenig Mensch, ein wenig Himmelsbote. Keineswegs perfekt, mal unschön, mal vergesslich oder auch sorgenvoll. »Klee war ein faszinierender Themenfinder seiner Bilder, ein Wortakrobat und Poet«, sagt Imhof. »Engel vom Stern«, »Engel noch häßlich«, »Alles hängt am seidenen Faden«, »Liebeslied bei Neumond« – der Kunstkenner zählt beeindruckende Werke auf.

Den größten Teil seines Lebens lebte der in Bern gebürtige Klee in Deutschland. In München lernte er Wassily Kandinsky und Franz Marc kennen und schloss sich der Künstlergruppe »Der Blaue Reiter« an. Später war Klee einer der prägendsten Lehrer am Bauhaus, anfangs in Weimar, dann in Dessau. Ab 1931 unterrichtete er als Professor an der Kunstakademie Düsseldorf. Als die Nazis seine Bilder als entartete Kunst verfemten, ging er ins Schweizer Exil. Klees Ausdrucksformen waren vielfältig und stets in Bewegung. Sein Werk reicht vom Expressionismus über den Kubismus bis hin zum Surrealismus. Paul Klee verstarb 1940.

Gedämpftes Licht im oberen Stockwerk des Klee-Zentrums: »Neue Horizonte« heißt die dortige Ausstellung, die das Spätwerk des katalanischen Künstlers Joan Miró, sein Schaffen und Denken und die Überarbeitung seiner eigenen Werke thematisiert. Klee war ein großes Vorbild für den über 14 Jahre jüngeren Maler von der Iberischen Halbinsel. Obwohl sich die beiden nie persönlich kennenlernten, gab es doch Ähnlichkeiten in ihrer künstlerischen Motivation. So hatten beide ein Faible für Kinderzeichnungen und prähistorische Kunst.

Miró (1893-1983) ist bekannt für seine farbigen surrealistischen Traumwelten. Immer wieder tauchen Frauen und Vögel auf, Insekten, Sterne, Sonne und Mond. Zeichensprache ist sein Markenzeichen, oft verdichtet, kaum zu identifizieren. Frauen stehen für Fruchtbarkeit und Leben und sind Symbole für Mutter Erde oder Gottheiten. Vögel sind das Symbol für grenzenlose Freiheit und das Entschweben. Die Gestirne stehen für alles Kosmische, entgegen dem Irdischen.

Als der Künstler sich 63-jährig auf der spanischen Mittelmeerinsel Palma niederließ und dort ein großes Atelier bezog, veränderte er sich und mit ihm taten das auch seine Werke. »Ich gehe hier herum. Betrachte die im Atelier verteilten Leinwände. Halte inne, um nachzudenken. Gehe weiter. Es ist ein Ort der Beobachtung, der Meditation.« Miró lotete die Grenzen der Malerei aus, überarbeitete manches Bild oder setzte die Arbeit an begonnenen Motiven fort. Diese kritische Auseinandersetzung mit sich selbst und seinen Werken und die Neugestaltungen seien Ausgangspunkt für die Ausstellung »Neue Horizonte« gewesen, erläutert Imhof und zeigt auf abstrakte, großformatige Gemälde. »Für Joan Miró war es nicht mehr wichtig, sich entweder für Personen, Lebewesen, Gegenstände oder für die Abstraktion zu entscheiden. Er mischte beides, ähnlich wie sein Vorbild Paul Klee, der sich diese Freiheit stets herausgenommen hatte.«

Manche Gemälde des Katalanen ähneln dem Action Painting[1] des US-Amerikaners Jackson Pollock. Die Vorstellung von der klassischen Malweise auf der Staffelei stimmte für Miró nicht mehr. Typisch dafür ist beispielsweise ein grobes Gewebe, in das er Löcher hineinbrannte, das er mit Stoff hinterlegte, von dem er einzelne Partien bemalte. Er arbeitete mit dem ganzen Körper, malte mit den Händen, traktierte Leinwände mit den Füßen, bespritzte sie mit Benzin und zündete sie an. »Die Kompositionen sind eine Mischung aus spontanem Impuls und durchdachtem Gestalten«, kommentiert der Imhof.

Andere Bilder erinnern an fernöstliche Kalligrafie, wie sie von Zen- oder Tai-Chi-Meistern[2] ausgeübt wurde und wird. Zu sehen sind in Bern schwarze Bilder mit rätselhaften, hieroglyphenartigen Zeichen, inspiriert von seiner Japanreise 1966. Von den Kalligrafien habe er neu gelernt, wie man einen Pinsel benutze, soll Miró später gesagt haben. Symbole und Figuren seiner einst verspielten Bildwelt sind nun verschwunden. Die Bildsprache ist reduziert. Die philosophische Sicht der Leere und Konzentration wurde ein wesentliches Element in Mirós Schaffen. Leinwände, auf denen sich kaum etwas ereignet und doch alles präsent ist. Ein Bild bringt das im wahrsten Sinne des Wortes auf den Punkt: Auf großem weißen Grund ist nur ein winzig kleiner Tupfer zu sehen. Ein Punkt. »Mehr Reduktion, mehr Klarheit geht nicht. Und jeder wird ihn sehen«, ist Imhof überzeugt. »Dieser blaue Punkt wird ganz laut – in dieser Stille und Leere, dem Meer aller Möglichkeiten.«

»Joan Miró. Neue Horizonte«, bis 7. Mai 2023, »Paul Klee. Vom Rausch der Technik«, bis 21. Mai 2023, beide Ausstellungen im Zentrum Paul Klee, Monument im Fruchtland 3, Bern.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1059613.wer-an-etwas-glaubte-wurde-erschossen.html?sstr=Action|Painting
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1147628.gehen-stehen-oder-fallen.html?sstr=Tai-Chi