nd-aktuell.de / 11.04.2023 / Politik / Seite 1

Israel: Ein Recht für die Rechte

In Israel brodeln die Konflikte. Die Ursachen für die derzeitige Stärkung der Siedlungsbewegung lassen sich bis in die Staatsgründung zurückverfolgen

Oliver Eberhardt
Siedlungsbewegung: Israel: Ein Recht für die Rechte

Die israelischen Medien hatten soeben gemeldet, dass Regierungschef Benjamin Netanjahu seinen Verteidigungsminister Joaw Galant gefeuert hat, als Hunderttausende Israel*innen alles stehen und liegen ließen und auf die Straße stürmten. »Wir saßen mit Freunden zusammen und ich habe als allererstes eine tiefe Wut gespürt. Dann habe ich gesehen, dass es allen anderen auch so ging«, erklärt der 33jährige Rechtsanwalt Aviv Bronfmann. »Wir mussten da raus, jetzt sofort. Wir mussten unser Land retten.«

Wie eine riesige Welle rollten Ende März dieses Jahres die Proteste gegen Netanjahus Justizreform durch Israel. Sie mündeten in einen gemeinsamen Generalstreik von Wirtschaft und Gewerkschaft. Währenddessen herrschte auch in Katamonim, einem der ärmeren Viertel im Westen Jerusalems, Wut – aber nicht auf die Regierung, sondern auf die anderen, »die Linken«. Angestachelt durch Netanjahus rechtskonservativen Likud und das rechtsradikale Parteienbündnis »Religiöser Zionismus« begann sich der Zorn auf die Proteste – faktische Gegenwehr gegen die ultrarechte Regierungspolitik – durch die Plattenbauviertel der Städte und die Siedlungen in den besetzten Gebieten zu ziehen.

»Wir wählen seit Jahren rechte Regierungen und bekommen trotzdem linke Politik und Gerichtsentscheidungen«, sagt die 28-jährige Hausfrau Sarit Barak, die mit ihrer Familie in der Siedlung Kirjat Arba außerhalb von Hebron lebt. Ihre Wut ist am Telefon deutlich zu hören. Seit Jahren ist sie in der Siedlerbewegung aktiv, erzählt Besucher*innen vom Leben in den Siedlungen, versucht ihnen zu vermitteln, warum Israel, warum Jüdinnen und Juden ein Recht haben, an Orten wie diesen zu leben. Und auch: warum Menschen wie sie, Siedler*innen also, kein Verständnis dafür haben, wenn Gerichte immer wieder klare Grenzen ziehen.

Schaut man mit ein bisschen Distanz auf die Ereignisse der vergangenen Wochen, dann wirken Aviv und Sarit beziehungsweise die Personengruppen, für die sie stehen, wie zwei Pole, die sich gegenseitig im besten Fall im Gleichgewicht halten und im schlimmsten Fall abstoßen. Und Israel erscheint wie eine sich ständig verändernde Summe von Fragen, die oft schon seit 100 Jahren ungeklärt sind – also seit alles anfing.

Umkämpfte Staatsgründung

Die Idee eines Judenstaates hatte Theodor Herzl Ende des 19. Jahrhunderts populär gemacht. Doch der Vorschlag hatte schon vom allerersten Tag an ein elementares Problem: Es gab zwar ein Volk, aber das war sich alles andere als einig. Die religiösen Jüd*innen in Osteuropa konnten sich bestenfalls einen Staat mit starker religiöser Ausrichtung vorstellen, einen jüdischen Staat also, viele von ihnen lehnten eine Staatsgründung aber aus religiösen Gründen vollständig ab. Dem gegenüber standen die überwiegend säkularen Jüd*innen in Westeuropa, und schon kurze Zeit später auch jene in Russland, die vom Sozialismus begeistert waren.

Während schnell die ersten Einwanderungswellen, sogenannte Alijoth, in das am Anfang vom Osmanischen Reich beherrschte, dann unter britischer Mandatsverwaltung stehende Palästina kamen, verfielen jüdische Intellektuelle in einen oft hart geführten Streit über so gut wie alle Aspekte der Staatsgründung: Wo sollen die Grenzen verlaufen? Sollte man besser verhandeln oder Gebiete im Kampf erobern? Sollten die Menschen tatsächlich dieses Iwrith sprechen, das am Anfang nur dessen Erfinder Elieser Ben Jehuda und dessen Kinder beherrschten? Oder vielleicht lieber Deutsch? Wie sollte die Natur des Staates sein, sprich: Wie viel Religion sollte er enthalten?

Dies ist natürlich eine sehr verkürzte Zusammenfassung einer Debatte, die sich über gut 50 Jahre bis zur israelischen Staatsgründung 1948 und darüber hinaus hinzog. Eine Debatte, die nie zum Abschluss kam, kommen konnte. Zu verschieden waren die Menschen, die nach Israel kamen, um dort zusammenzuleben. Gleichzeitig waren die Proportionen ständig in Bewegung, mal war die eine Bevölkerungsgruppe in der Mehrheit, mal die andere, die einen religiös, die anderen säkular.

In den Jahren vor 1948 hatte plötzlich alles ganz schnell gehen müssen: Die Briten zogen ihre Truppen ab, weil sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg das Mandat nicht mehr leisten konnten und wollten. Allen war klar, dass die arabischen Staaten angreifen würden, sobald der britische Hochkommissar die Region verlassen hätte; Westjerusalem wurde bereits belagert. Ein Komitee schrieb in der Unabhängigkeitserklärung grundlegende Werte fest und auch eine Art Regelwerk für das künftige Zusammenleben. Leben und leben lassen lautete der Kompromiss, grob zusammengefasst. Im Laufe der Zeit erlangte diese Erklärung Verfassungsrang. Denn alle Versuche, eine richtige Verfassung aufzusetzen, scheiterten daran, dass aufgrund der gegensätzlichen Interessen von Religiösen und Säkularen immer eine oder mehrere Bevölkerungsgruppen benachteiligt werden würden.

Die nie beendeten Diskussionsprozesse und die daraus entstehende Sorge vor der Spaltung bilden einen wichtigen Teil des Fundaments für die gesellschaftlichen Konflikte Israels, die sich heute in der geplanten Justizreform entladen. Teil des damaligen Kompromisses war die Schaffung eines auf Minderheitenbeteiligung angelegten Regierungssystems. Die Parteien sind in Israel traditionell weniger nach politischen Ideologien wie sozialdemokratisch, liberal oder konservativ geordnet, sondern werden mit einer bestimmten Bevölkerungsgruppe identifiziert. Jisrael Beitenu beispielsweise ist die Partei der Einwanderer*innen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, der Likud hingegen wurde in den 70er Jahren durch die Jüd*innen aus den arabischen Staaten stark. Das Wahlsystem ist im Grunde simpel: Mandate bekommt, wer genug Stimmen für einen Sitz hat. In den ersten Jahrzehnten wurde so die Gesellschaft im Parlament ziemlich gut abgebildet.

Militärstrategische Anfänge

Ein weitere Fundierung erhielten die heutigen Konflikte, nachdem Israel im Sechstagekrieg 1967 das Westjordanland, Ost-Jerusalem, die Golanhöhen und den Gazastreifen eroberte. Die Strateg*innen in Regierung und Militär sahen die Besatzung zunächst als Lösung für die ständige Bedrohung durch die Nachbarländer. So konnte Jordanien theoretisch bis dahin von den Anhöhen des Westjordanlands die gesamte Ebene rund um Tel Aviv überblicken. Von den Golanhöhen war der israelische Norden in Reichweite des syrischen Militärs, und so kam die israelische Regierung auf die Idee, militärische Siedlungen zu bauen. Sie sollte eventuelle Angriffe abwehren, bevor diese das Kernland erreichen konnten.

Doch während die Arbeitspartei den Startschuss für den Siedlungsbau gab, kam in den Vorgängerparteien des heutigen Likud die Erinnerung an das Konzept eines »Groß-Israel« auf. Dies hatten die Parteigründer*innen in den 30er Jahren unter Verweis auf die Grenzen des biblischen Israels propagiert, allerdings mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen vom konkreten Grenzverlauf unter den Beteiligten. Und auch drei Jahrzehnte später fand das Konzept wieder große Unterstützung. Es entstand die Siedlerbewegung, die das Westjordanland mit dessen biblischen Bezeichnungen Judäa und Samaria versah, den Siedlungsbau als Fortsetzung des zionistischen Projektes in der Vorstaatszeit betrachtete und dieses Projekt unter dem Einfluss von Rabbinern sehr schnell auch mit religiösen Konnotationen auflud. Währenddessen betrachtet nahezu der gesamte Rest der Welt und auch ein Großteil der Bevölkerung in den Ballungsräumen im israelischen Kernland die Besatzung als temporär und eine Verhandlungslösung als unumgänglich.

Gleichzeitig gewannen die Siedler*innen auch im israelischen Parlament an Einfluss, wurden zum Zünglein an der Waage, radikalisierten sich aber auch immer mehr, ohne dass die verschiedenen Regierungen wirklich klare Verhältnisse schufen. Unternommen wurde selbst 1994 nichts, als der Siedler und Militärarzt Baruch Goldstein in Hebron 29 Palästinenser*innen erschoss und dem damaligen Regierungschef Jitzhak Rabin vielfach geraten wurde, die Siedlung im Stadtzentrum des palästinensischen Hebron räumen zu lassen. Und auch nachdem Rabin im folgenden Jahr selbst Opfer eines jüdischen Attentäters wurde, ging der Staat kaum gegen gewaltbereite rechte Israel*innen vor.

Justizreform für rechte Agenda

In jenen Jahren brachte Benjamin Netanjahu die Idee auf, dass man Kompromisse gar nicht braucht, sondern Mehrheiten für »rechts« oder »links« – und das ist seit einigen Jahren zum politischen Konzept geworden. Die Rechten beanspruchen für sich, Land und Gesellschaft nach eigenem Gusto zu gestalten; das sei doch demokratisch, ist dann immer wieder zu hören. Doch einmal abgesehen davon, dass das Parlament die Gesellschaft seit der Einführung einer Wahlhürde nicht einmal nominell mehr vollständig abbildet, greift die religiöse Rechte damit in die Rechte und Bedürfnisse der anderen Bevölkerungsgruppen ein. Der Oberste Gerichtshof ist hier Moderator, schaut auf die Regeln und sagt, was geht und was nicht. Diese Funktion der staatlichen Gewaltenteilung will die aktuelle Regierungskoalition untergraben, indem sie dem Parlament Entscheidungsgewalt über die Geltung von Gerichtsurteilen einräumt.

Die Umgestaltung der Justiz ist für die Unterstützer*innen der Regierungsparteien zum Schlüssel für den ungehinderten Siedlungsbau geworden, aber auch für viele Vorhaben, über die seltener gesprochen wird: Frauen soll das Lesen aus der Torarolle an der Klagemauer verboten werden, in Krankenhäusern würde man gerne die Menschen vor Pessach nach Brot durchsuchen lassen und die Rechte von gleichgeschlechtlich orientierten oder Transgender-Menschen sowie israelischen Araber*innen würde die Regierung gerne einschränken. Und das ist nur eine kleine Auswahl der rechten Umgestaltungspläne.

Der ehemalige Regierungschef Jair Lapid, der bei kaum einem Protest fehlt, hat nun wieder die Forderung nach einer Verfassung auf die Tagesordnung gesetzt: Die offenen Fragen zum Verhältnis von Staat und Religion müssten endlich beantwortet werden, einschließlich der Besatzungsfrage. Doch dass die Regierenden beider Seiten hier einen Kompromiss eingehen werden, bleibt auch 126 Jahre nach dem ersten zionistischen Weltkongress ausgesprochen unwahrscheinlich.