nd-aktuell.de / 05.05.2023 / Kultur / Seite 1

Lou Reeds Rettung

Lou Reed liebte Tai Chi - hätten Sie’s gewusst?

Christof Meueler
Lou Reed spürte das »Beste aller Energien« – täglich!
Lou Reed spürte das »Beste aller Energien« – täglich!

Lou Reed war polymorph pervers, polytoxisch, paranoid und sehr poetisch. Sein Image pendelte zwischen Genie und Kotzbrocken. Dabei sah er arschcool aus und wirkte brutal arrogant. Mit Sonnenbrille auf die Bühne gehen und mit der lässigsten Spezialstimme der Welt singen – das war ein Role Model[1] der 60er, das sogar die Punks in den 70ern akzeptierten. Nachdem er Velvet Underground, neben den Beach Boys die wichtigste US-Band der 60er, verlassen hatte, machte er zwischen seinen beiden Meisterwerken »Transformer« (1972) und »Blue Mask« (1982) die besten schlechten Platten der Welt. Dabei begriff er Rock’n’Roll als Form der Literatur und sich selbst als »American Poet«.

Er war 40, als »Blue Mask« herauskam, und ein Überlebender von Drogen, Suff und Irrsinn. Ihn retteten aber weder Musik noch gute Worte, sondern die Übungen des Tai Chi, mit denen er zu der Zeit anfing, weil er seiner damaligen Frau Silvia Morales versprochen hatte, sein Leben umzukrempeln. Und das klappte auch ganz gut.

Er meinte, durch Tai Chi werde das »Beste aller Energien verfügbar« und Körper und Geist würden zu »einer unsichtbaren Macht«. Nein, er wolle nicht »allzu mystisch rüberkommen, aber es passiert tatsächlich etwas mit einem, wenn man diese alte Kunst praktiziert«. Wie auf einer Droge ohne Drogen.

Lou Reed praktizierte Tai Chi bis zu seinem Tod 2013. Er wollte immer ein Buch darüber herausbringen. Doch es ist erst jetzt fertig geworden, herausgegeben von Laurie Anderson[2], mit der er über zwei Jahrzehnte zusammen war. Es besteht aus den Mails, Notizen und Textentwürfen, die Reed hierzu angefertigt hatte. Und aus jeder Menge Interviews mit seinen Freunden und Musikern, die völlig distanzlos über das Thema palavern. Das wirkt oft so, als wenn jemand ein Buch über Pommes Frites gemacht hätte – und man erführe wenig mehr, als dass sie bisweilen sehr gut schmecken. Nur würde man dann nicht wie Lou Reed meinen: »Mein Tai Chi hat meinen Körper beschützt«.

Lou Reed: The Art Of The Straight Line. Mein Tai Chi. A.d. amerik. Engl. v. Sissi F. Alexander und Julie Grünbach. Btb-Verlag, 328 S., geb., 28 €.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1171033.kastrierte-philosophen-vergangenheit-wird-gegenwart.html?sstr=Velvet|Underground
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1043965.zwischen-apokalypse-und-revolution.html?sstr=Laurie|Anderson