Vor nahezu 150 Jahren hat Charles Darwin in seinem epochemachenden Werk »On the Origin of Species« (1859) nachgewiesen, dass die heutige Artenvielfalt der Lebewesen durch Abstammung von gemeinsamen Vorfahren und Veränderungen auf sich verzweigenden Wegen entstanden ist. Als wesentliche bewegende Kraft dieses Vorganges, der Evolution der Lebewesen, entdeckte er die natürliche Auslese im Ringen der Lebewesen um ihre Existenz. In diesem Ringen haben die erblich bedingt individuell verschiedenen Lebewesen unterschiedliche Überlebens- und Fortpflanzungschancen. Diese hängen davon ab, wie die Lebewesen aufgrund ihrer Eigenschaften in ihre Lebensbedingungen, ihre Umwelt, passen. Dadurch werden sie von der natürlichen Auslese an die jeweiligen Umweltbedingungen angepasst. Doch die Anpassung hat Grenzen. Die Evolution begeht und duldet auch – wie Jörg Zittlau sie personifizierend formuliert – »Fehler« und »Irrtümer«.
Das Anliegen des Wissenschaftsjournalisten besteht darin, verbreiteten Missverständnissen der Darwinschen Theorie entgegenzutreten. Vor allem wendet er sich gegen Vorstellungen, dass in der Natur ein ständiger unerbittlicher Kampf herrscht, in dem nur die Stärksten überleben, während die Schwächeren zum Aussterben verurteilt sind. Damit verbindet er die Absage an die Übertragung solcher Vorstellungen auf die menschliche Gesellschaft, um Machtansprüche und Brutalitäten als »Recht des Stärkeren« zu verklären und die Probleme sozial Schwächerer als Abschiedsgesang von Verlierern zu bagatellisieren. Zugleich bestreitet er, dass Evolution mit Fortschritt gleichzusetzen und der Mensch die »Krönung der Schöpfung« sei.
Den Missverständnissen der Darwinschen Theorie tritt der Autor nicht mit einer gelehrten Abhandlung entgegen. Vielmehr erzählt er locker und humorgewürzt Geschichten von Tieren. Sie werden durch witzige Illustrationen von Lucia Obi trefflich ergänzt. Es geht um tierische Eigenschaften und Verhaltensweisen, die gewiss nicht überlebensdienlich, aber keineswegs selten sind. Jede Geschichte ist eine kleine Fallstudie, die mit vereinfachenden und entstellenden Auffassungen von Evolution und Darwinismus nicht zu vereinbaren ist (und schon gar nicht mit dem Glauben, dass die lebende Natur das perfekte Werk eines intelligenten Desig-ners ist). So erfährt man z. B. von einer tropischen Ameisenart, die Überschwemmungen ihrer Nester durch Trinken bekämpft – und das Wasser gleich nebenan wieder ausscheidet, und dies auch nur tagsüber, da diese Ameisen nachts nicht aktiv sind. Robben und Wale haben nicht wie andere Säugetiere Rezeptoren für blaue Farbe in ihren Augen, obwohl im Meer die kurzwelligen blauen Lichtanteile mit zunehmender Tiefe immer mehr dominieren. Albatrosse fliegen zwar hervorragend, haben aber mit einer Flügelspannweite von bis zu 340 Zentimetern ziemliche Start- und Landeschwierigkeiten. Bei der Landung bricht sich so mancher die Flügel oder gar den Hals. Elche geraten durch den Verzehr gärender Äpfel und die fortgesetzte alkoholische Gärung in ihren Mägen in Vollrausch mit anschließendem Kater und veranstalten besoffen Randale. Und dass Pfauenmänner einen langen Federschweif hinter sich herziehen und bei der Balz radförmig aufstellen, scheint ihrer sexuellen Attraktivität zu dienen, aber außerhalb der Balzzeit eher hinderlich zu sein.
Viele solcher Erscheinungen, die nicht gerade förderlich für das Überleben im Daseinskampf sind, werden hier behandelt. Für Erklärungen hierfür fehlen vielfach konkrete Kenntnisse über die inneren und äußeren Umstände.
Leider stimmt nicht alles, was in dem Buche steht. So schreibt der Autor, Darwin habe eine Weile als Landpfarrer gearbeitet. Doch Darwin hat zwar Theologie studiert, aber den Pfarrerberuf nicht ausgeübt. Der Autor nennt den »Koalabären« und den »Pandabären« Verwandte. Doch im Unterschied zum Großen Panda gehört der Koala wie die Kängurus zu den Beuteltieren und seine Bärenähnlichkeit ist nur äußerlich. Und wenn Zittlau gegen die Meinung, der Mensch sei die Krone der Evolution, die pessimistische These setzt, der Homo sapiens sei die Krone aller Irrtümer, und das verstaubte philosophisch-anthropologische Konzept vom Menschen als »Mängelwesen« hervorkramt, dann trägt er eindeutig zu dick auf. Dergleichen ist ärgerlich, zumal in einem Buch, dessen Lektüre Vergnügen bereitet, zum Nachdenken anregt.
Jörg Zittlau: Warum Robben kein Blau sehen und Elche ins Altersheim gehen. Pleiten und Pannen im Bauplan der Natur. Econ, Berlin. 191 S., geb., 18 EUR.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/117351.wie-perfekt-ist-die-natur.html