nd-aktuell.de / 26.05.2023 / Kultur / Seite 1

Theatertreffen: Shakespeare ohne Ende

Beim Berliner Theatertreffen spielt die vermeintliche Provinz in der Regel keine Rolle. In diesem Jahr ist mit Philipp Preuss’ »Hamlet« eine Inszenierung aus Dessau eingeladen. Eine Erkundungsreise

Erik Zielke
Selbstbespiegelung auf der Bühne? Hamlets Tragödie ist auch die Unfähigkeit, über sich selbst hinauszusehen.
Selbstbespiegelung auf der Bühne? Hamlets Tragödie ist auch die Unfähigkeit, über sich selbst hinauszusehen.

Zwei Wochen ist es her, da wurde das diesjährige Theatertreffen in Berlin-Wilmersdorf feierlich eröffnet. Die Bestenschau wird neugierig beäugt von Publikum und Kritik – und oft auch munter, aber liebevoll verspottet. Vieles ist neu in diesem Mai. Das Haus der Berliner Festspiele, das das Theatertreffen traditionell ausrichtet, hat einen neuen Intendanten, Matthias Pees. Das prominente Festival ein neues, dreiköpfiges Leitungsteam, bestehend aus Olena Apchel, Carolin Hochleichter und Joanna Nuckowska.

Gut gelaunt, aber offenbar ohne dass es etwas recht Ergiebiges zu sagen gäbe, wurden dann Eröffnungsreden geschwungen. Pees, der sich mit seiner Infragestellung der unabhängigen Kritikerjury des Theatertreffens unbeliebt gemacht hatte, kam an einem rhetorischen Salto nicht vorbei und lobte nun die professionelle Theaterkritik über alle Maßen. Sie kenne die Bühnenlandschaft des deutschsprachigen Raums »lückenlos«. Nun gut, der Mann hat sich offenbar beraten lassen.

Die drei Theatertreffen-Leiterinnen radebrechten im Anschluss im deutsch-englischen Sprachmix und dankten insbesondere den – na, hätten Sie’s geahnt? – Bäumen. Nicht nur solchen, die um das Haus der Berliner Festspiele herum gut verwurzelt sind, sondern auch jenen, die hier mittlerweile nicht mehr stehen. »Zukunft entsteht allein aus dem Dialog mit den Toten«, wusste schon Heiner Müller kundzutun. Mir scheint, er wird es anders gemeint haben.

So viel der Vorreden. Was auf der Bühne an diesem Nachmittag folgte, war die Festivaleröffnung mit »Das Vermächtnis«, inszeniert für das Residenztheater München durch Regisseur Philipp Stölzl. Ich entschließe mich, den Siebenstünder zu schwänzen, lasse die warmen Worte für unsere arboretischen Mitbewohner in mir nachwirken, denke an den »wandelnden Wald« in Shakespeares »Macbeth« und fühle mich Stratfords größtem Sohn schon recht nah.

Mich zieht es nach Dessau an diesem Tag, wo man einen, wie ich höre, bemerkenswerten »Hamlet« zeigt. Die Arbeit wird auch im Rahmen des Theatertreffens zu sehen sein. Aber in Sachsen-Anhalt scheut man sich nicht, das Spektakel parallel zur Eröffnung in Berlin zu terminieren. Das Theatertreffen hat sich in den vergangenen Jahren kaum je um die kleinen oder nur mittelgroßen Städte mit ihren Bühnen geschert. Warum soll Dessau nun die Hauptstadt kümmern? Berlin, München und Hamburg sind die ewigen Dauergäste, bereichert um Arbeiten aus Wien sowie Basel oder Zürich. Großstadtkritiker, die auf das Großstadttheater schauen. Haftet einem derart eingeschränkten Blick nicht recht schnell ein Geruch von Provinz an, von der man sich doch fernzuhalten suchte?

»Die Zeit ist aus den Fugen« – das ist nicht allein eines der berühmten Zitate aus Shakespeares »Hamlet«. Der Satz schwebt auch unsichtbar als Motto über jedem Fahrplan der Deutschen Bahn. Die minutengenauen Angaben sind ja doch nur Richtwerte, daran vermag ein Deutschlandticket sicher nichts zu ändern. Der Zug von Berlin ins Anhaltische nimmt seinen Lauf – keiner weiß so recht, warum – am Bahnhof Wannsee. Auf dem Weg lässt man Wittenberg, jene Stadt, in der Hamlet langzeitimmatrikuliert war, in Fahrtrichtung links liegen. Keine 90 Minuten soll die Reise dauern. Schon bald aber vernehme ich Durchsagen, die auf einen »Stellwerkschaden« aufmerksam machen. Von vorzeitigem Fahrtende ist die Rede, von Ersatzbussen gar. Stoisch harre ich aus, lasse mich von der heraufziehenden Katastrophe nicht beeindrucken und – siehe da! – mit ein paar lächerlichen Minuten Verspätung spaziere ich aus dem Dessauer Hauptbahnhof.

Dessau ist ein Kuriosum. Städtebaulich hat es seine Reize, und doch fühlt man sich mitunter wie Alice, die gerade noch dem Kaninchen auf der Spur war. Die Größenverhältnisse scheinen nicht zu stimmen. Weitläufige Plätze werden von vereinzelten Menschen beschritten. Überhaupt gibt es hier ein erstaunliches Gefühl der Leere. Es sei denn, man sucht eines der raren und daher überfüllten gastronomischen Angebote auf. Das Anhaltische Theater Dessau, ein eindrucksvoller Bau, bietet einem Publikum von 1200 Zuschauern Platz. Die traurige Wahrheit allerdings ist, dass jenseits urbaner Zentren wohl nur denkbar wenige Bühnen mit anspruchsvollem Programm so viele kulturell Interessierte Abend für Abend anziehen können. Seit fast zehn Jahren findet man Dessaus Mehrspartenhaus auf der Roten Liste des Deutschen Kulturrates, versehen mit dem Attribut »gefährdet«.

Derlei Not kann man verschiedentlich begegnen. Nicht selten, aber selten mit Erfolg, wird versucht demografischen wie kulturellen Schieflagen mit boulevardeskem Angebot beizukommen. In Dessau gibt man sich da ambitionierter. Und lädt sich eigensinnige Künstler ans Haus ein. Philipp Preuss beispielsweise.

Der Österreicher, der zum Leitungskollektiv des Theaters an der Ruhr in Mülheim zählt, hat in den vergangenen Jahren mit äußerst bildstarken Inszenierungen auf sich aufmerksam gemacht. Mit den räumlichen Bedingungen und dem zu erwartenden Publikumszuspruch geht der Künstler so um, wie es sich gehört: künstlerisch. Die Zuschauerplätze im weitläufigen Parkett bleiben bei den Vorstellungen unbesetzt; das Publikum verteilt sich ausschließlich im Rang – und blickt von oben auf das Bühnengeschehen hinab, fast wie in vorelisabethanischen Zeiten. Das ist kein Notfallplan, sondern ein herausfordernder Perspektivwechsel. Auf das Geschehen am dänischen Hof sieht man wie ein Unbeteiligter aus sicherem Abstand auf einen Unfall.

Ein endlos langer Tisch, der von der Rampe bis zur Brandmauer reicht, ist Zentrum des Bühnenbilds (Ramallah Sara Aubrecht). Er ist, ganz je nach dem, königliche Tafel oder Laufsteg, Bühne oder trennende Mauer. Ein doppelt besetzter Hamlet, Niklas Herzberg und Felix Axel Preißler geben sich die Ehre, lässt die Tragödie auch als inneren Konflikt des Titelhelden überdeutlich werden. Der innere Widerstreit eines Haderers, dem eigene Machtambitionen fremd sind und der doch ringt mit dem Geschehen um sich herum. Etwas ist faul hier. Was heißt hier? Vielleicht im Staate Dänemark, vielleicht in der verqueren Einrichtung der Realität, vielleicht im Kopf des Königssohns.

Shakespeares »Hamlet« lebt von der Ambivalenz zwischen den sehr innerlichen Konflikten des Prinzen in Helsingör sowie den Befriedungsversuchen am Hofe und der hereinbrechenden kriegerischen Realität von außen. Fortinbras steht schon mit seiner Armee bereit, während man in Dänemark noch sinniert über Geistererscheinungen. Preuss geht der einen Spur nach, während er die andere grob vernachlässigt, sogar das Tragödienende kappt. Ist das inszenatorische Ignoranz? Feigheit sogar? Eher das Bemühen um einen interpretatorischen Zugriff in dieser erstaunlich texttreuen Shakespeare-Auseinandersetzung.

Statt des eigentlich zwingenden katastrophalen Finales springt der Preuss’sche »Hamlet« zurück zu seinem Anfang und bleibt in der Zeitschleife hängen. Es ist die Unfähigkeit zu handeln, Krieg hin oder her. Die Zeit, hier ist sie wirklich aus den Fugen. Der Wiederholungszwang verhindert den Umgang mit der unabwendbaren Realität. Und so läuft die Inszenierung ins Unendliche. Wer ausharren will, dreht noch ein paar Runden mit den beiden Hamlets. Gemurmel hat sich längst eingestellt. Nicht geschlossen, sondern irritiert und vereinzelt, verlassen die Zuschauer den Rang. Der Schlussapplaus bleibt unter diesen Vorzeichen verzichtbar. Die Nachwirkung hält länger an und überdauert gar nächtliche Zugreisen zurück nach Berlin.

Als Ende Januar die Einladungen zum Theatertreffen bekannt gegeben wurden, war diese außergewöhnliche Arbeit schon abgespielt. In Dessau hat man sich entschlossen, sie noch ein zusätzliches Mal für das heimische Publikum zu zeigen. Zwei Mal wird sie nun in Berlin gastieren, am Pfingstsonntag und -montag, dann soll Schluss sein. Das ist das Schicksal der darstellenden Kunst, jenseits der Großstädte kommt es oft besonders jäh. Wer sich traut, wagt aber auch künftig eine Reise in die vermeintliche Provinz. Es lohnt sich.

Vorstellungen im Rahmen des Theatertreffens: 28. und 29. Mai
www.berlinerfestspiele.de