Man könne ein Mädchen aus der Gosse holen, aber nicht die Gosse aus dem Mädchen. Diesen zugegebenermaßen abgedroschenen Satz schafft Lisa Roy gleichwohl auf überraschende Weise mit Leben zu füllen. In ihrem Debütroman »Keine gute Geschichte« lässt sie die erfolgreiche Düsseldorfer Social-Media-Managerin Arielle Freytag, die eigentlich gedacht hatte, ihre Herkunft für immer hinter sich lassen zu können, in den prekären Essener Stadtteil Katernberg zurückkehren, in dem sie aufgewachsen ist.
Natürlich kommt Arielle nicht ganz freiwillig wieder hierher, wegen einer heftigen Depression war sie für einige Zeit in der Psychiatrie. Als sie nach ihrer Entlassung nichts Besseres mit sich anzufangen weiß, als mit Edel-Fastfood[1] und teurem Wodka Trash-TV zu gucken, um sich nicht von der nächsten Brücke zu stürzen, kann sie nicht viel einwenden, als eine Bekannte von früher sie bittet, sich in der Heimat um ihre gebrechliche Großmutter Varuna zu kümmern.
Arielle ist bei Varuna aufgewachsen, nachdem ihre Mutter Rita, als Arielle sechs war, spurlos verschwand. Auch jetzt sind wieder zwei kleine Mädchen in Katernberg verschwunden, und Arielle wird immer mehr in deren Geschichte hineingezogen, die sie zugleich an ihre eigene erinnert.
Was wie ein passabler Krimiplot klingt, soll eben, im Gegenteil, »keine gute Geschichte« sein, wie Arielle gleich zu Beginn feststellt – nur, damit Lisa Roy dann freilich von diesem ersten Satz an das Gegenteil beweisen kann. Verschwundene Mädchen bräuchten angeblich eine edlere Kulisse als die Katernberger »Ruhrgebietstristesse«, um für eine echte Hochglanzstory tauglich zu sein. Dass eine solche aber vielleicht doch nicht immer die bessere Geschichte abgibt, führt Roys auf eine sympathische Art unsympathische Antiheldin eindrücklich vor.
Arielle erzählt ihre Geschichte als nachträglichen Abschiedsbrief an ihre Mutter, das hatten ihr die Ärzte in der »Klapse« geraten. Und sie legt dabei einen abgebrüht schnoddrigen wie schonungslosen Ton an den Tag, auch um ihre sich »beständig in ihrer Beschissenheit« behauptende Heimatsiedlung beschreiben zu können: »Die löchrige Hecke vor dem Häuserblock, als wäre er ein Bordell, das es abzuschirmen gilt, nicht einfach ein trauriges Stück Ruhrgebiet. (...) Ohne diese Hecke wäre es weniger traurig. Ohne Hecke wären wir einfach offiziell im Ghetto und hätten ein bisschen Ghettostolz entwickelt«. Als sie in dieser Hecke dann ihrer Schulkameradin Melanie begegnet, der Mutter eines der vermissten Mädchen, sagt die zu ihr: »Du hast früher schon immer geglaubt, dass du was Besseres bist«, worauf Arielle nur knapp antwortet: »Denk ich immer noch.«
Ihre Großmutter, »eine Frau höheren Alters im Outfit eines fernöstlichen Wanderpredigers«, war eigentlich »eine geborene Heidrun«, nannte sich aber seit Jahrzehnten »einfach Varuna, kein Nachname. Als wäre sie Prince[2] oder Banksy und keine verschrobene Alte, die arbeitslos im Essener Norden wohnte, hässliches Geschirr töpferte und sich noch hässlichere Katzen hielt«. Von der kauzigen Alten hat Arielle sich nie geliebt gefühlt, was die Gedanken an die innig geliebte – und liebende – Mutter in umso helleren Farben erstrahlen lässt. Fast selbst noch ein Kind, als sie ihr Kind bekam, machte Rita das fehlende Geld mit umso mehr Liebe und Lebensfreude wett, und mit jeder Menge Junk Food: »Eigentlich haben wir außer Essen und Rumlaufen nicht viel erlebt. Es waren die glücklichsten Tage meines Lebens«, schreibt Arielle.
Nach dem ungeklärten Verschwinden der Mutter war sie – »ethnisch uneindeutig«, Vater unbekannt, aber »höchstwahrscheinlich schwarzhaarig« – vollends zur exotischen Waise geworden, die bei der ersten Gelegenheit ihr Heil in der Flucht suchte. Was natürlich schiefgehen musste.
Abgesehen von der erfrischend renitenten Protagonistin und dem skurrilen Figurenkabinett ist Lisa Roys Erzählung in beinah klassischer Weise eine doppelte Heilungsgeschichte durch die Rückkehr zum Ursprung und durch die Entwirrung von Rätseln. Immer tiefer taucht Arielle in den aktuellen Kriminalfall und damit auch in ihre eigene Geschichte ein. Die Begegnungen mit dem schönen schwarzen Vater des einen verschwundenen Mädchens und der weißen Mutter des anderen (»Die echten Sozialfälle waren meistens die Deutschen«), mit einer türkischen Sozialarbeiterin und einem unangenehm gutmenschelnden Lehrer bringen Arielle irgendwann auch sich selbst näher.
Nun könnte man sagen, dass dieser stimmungsvolle Re-entry in die heilende Vergangenheit (»Wie in den Neunzigern hier«) doch auch etwas zu glatt abschnurrt – obwohl Arielle auch erzählerisch zerrissen ist zwischen der toughen Aufsteigerin (»Im Grunde war ich nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Jung, hungrig, online und geldgeil«) und der re-emotionalisierten Gossengöre mit dem Herz am rechten Fleck (beide Seiten in der Hörbuch-Ausgabe übrigens von Lisa Hrdina mühelos überbrückt). Und doch ist diese gut-ungute Geschichte so trocken-witzig, pointen- wie beobachtungsreich, mitreißend wie einfühlsam erzählt, dass man bis zum spannenden Finale nicht genug davon kriegen kann.
Lisa Roy: Keine gute Geschichte, Rowohlt, 240 S., geb., 22 €. Als Hörbuch erschienen im Audio Verlag.