Angefangen hat es mit einem Weihnachtsgeschenk. Der Onkel beglückte die bucklige Verwandtschaft mit einem Jahreslos der »Aktion Mensch«. Wahnsinn, dachte ich, endlich mal ein vernünftiges Geschenk, das mich reich machen wird. Ich begann zu fantasieren, sah mich mit einem Tesla durch den Wedding brausen, um später in meiner Villa in Dahlem[1] im Swimmingpool zu dösen. Normalerweise bemühe ich mich, mein Leben und meine Aussichten realistisch zu bewerten (bleibt mir ja auch nichts anderes übrig), aber jetzt gingen die Pferde mit mir durch.
Mit dem Los zog eine neue Deadline in mein Leben ein. Jeden letzten Dienstag im Monat wurden die Zahlen für mein Jahreslos gezogen, aber erst am folgenden Sonntag bekannt gegeben. Komisch, oder? Wurden da erst die Angehörigen der Mitarbeiter versorgt? Hier mal ’ne Million, da mal 7500 Euro oder eine Monatsrente für die nächsten 500 Jahre (natürlich vererbbar), bis alle versorgt waren, und danach hier und da mal eine Zahl ausgetauscht, damit auch ein paar Leute da draußen mal zehn Euro gewinnen?
Egal, ich las die Newsletter mit einem Interesse, wie ich sie für Newsletter noch nie aufgebracht hatte, und allmählich schälte sich eine für mich deprimierende Erkenntnis heraus: Ich war weiterhin nicht der Gewinnertyp, der Erfolgsmensch, sondern die arme Sau von nebenan. Nicht mal zehn Euro gewann ich, und von der Million war ich noch weiter entfernt.
Sogar sehr weit entfernt, wie ich wenig später erfuhr, denn das Jahreslos ermöglichte als Hauptgewinn nur eine halbe Million. Da dachte ich: Sei mal nicht gierig, eine halbe Million ist auch okay. Da musste ich halt von der Liste der Anschaffungen, die ich zwischenzeitlich angelegt hatte, die Hälfte streichen. Die Liste musste ich wegen der Inflation[2] sowieso anpassen. Wenn das so weiterging, würde ich mir mit dem Hauptgewinn gerade mal einen Einkauf beim Discounter leisten können.
Als das Jahr um war, habe ich mir ein neues Jahreslos gekauft. Vermutlich war Fortuna einfach nur etwas verpeilt und hatte den Jackpot für mich später geplant, dachte ich mir. Nach einer Weile hörte ich auf, nach den Gewinnzahlen zu schauen: Seit Monaten nicht der geringste Treffer. Ich warte einfach darauf, dass das Telefon klingelt und jemand mir endlich meinen Traum erfüllt.
Wenn das passiert, werde ich niemandem etwas sagen. Experten raten ja davon ab, weil man dann neue Freunde hat, die irgendwelche irren Projekte haben, die man finanzieren soll. Etwa eine Kunstinstallation bei einer Wattwanderung oder die Förderung junger Weddinger Autoren. Die können mich mal! Nee, wenn das Glück endlich zu mir kommt, gebe ich mich so bescheiden wie möglich, trinke mit den Säufern im U-Bahnhof Seestraße eine Flasche Sterni, bevor ich mit dem Tesla ins KaDeWe fahre, um mir dort eine Salami für 350 Euro zu kaufen, die ich dann auf der Treppe zur Gedächtniskirche mit den Punks teile.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1174050.sonntagmorgen-das-glueck-laesst-auf-sich-warten.html