nd-aktuell.de / 26.06.2023 / Reise / Seite 1

My Pony is over the Ocean

Lange, schmale Barriere-Inseln schützen die flache Ostküste der USA vor den Wellen des Atlantik. Auf dem Eiland Assateague leben seit Jahrhunderten wilde Pferde

Carsten Heinke
Auf dem Weg von Assateague nach Chincoteague durchquert die Herde den knapp 300 Meter breiten Ozeankanal zwischen beiden Inseln.
Auf dem Weg von Assateague nach Chincoteague durchquert die Herde den knapp 300 Meter breiten Ozeankanal zwischen beiden Inseln.

Hufgetrappel reißt mich aus meinen Träumen. Es ist nah, ganz nah: Über die Zeltwand, von der Morgensonne angestrahlt, huschen lange Schatten. Bis ich begreife, was passiert ist, sind die vierbeinigen Frühaufsteher schon über alle Dünenberge. Emma, meine Nachbarin, war schneller und ist nun hörbar glücklich über ihr Erlebnis. Sie jubiliert.

Ein bisschen ärgert es mich, dass ich nichts gesehen habe. Doch die Freude überwiegt. Immerhin bin ich zum ersten Mal in meinem Leben inmitten wilder Pferde aufgewacht. Denn der Campingplatz, auf dem ich übernachtete, liegt in einem ihrer Lebensräume. Assateague, knapp vier Autostunden von Washington D.C. entfernt, ist ein Biosphärenreservat, dessen Hauptbewohner 300 Ponys sind.

Seit Jahrhunderten leben die Tiere auf der Barriere-Insel. Viele glauben, britische Kolonialisten hätten die Pferde im 17. Jahrhundert vor dem Fiskus hier versteckt. Andere sind sicher, dass es sich bei den Vorfahren der Ponys um Schiffbrüchige aus Spanien handelt. Ausgerechnet diese oft belächelte Legende wurde erst kürzlich wissenschaftlich untermauert (siehe Kasten).

Vor dem Zelt empfängt mich Emma. »Sie sind zum Ozean gelaufen und inzwischen sicher weiter in den Wald«, klärt sie mich auf und schenkt mir Kaffee ein. »Am Strand triffst du sie meistens nur sehr früh am Morgen. Wenn die Sonne höher steigt, sind ihnen Schattenplätze lieber«, weiß die Frau aus Boston, die hier bereits seit zwei Tagen campt. Dass es um frei lebende Ponys geht, ist klar. Alle kommen ihretwegen – viele so wie Emma, um sich einen Traum aus Kindheitstagen zu erfüllen.

Erschaffen hat ihn Marguerite Henry mit »Misty of Chincoteague«, für Generationen junger Leser in den USA so wichtig wie etwa »Heidi« in Europa. Von einer wahren Story inspiriert, erzählt das 1947 erschienene Buch vom Schicksal zweier Kinder, einer wilden Ponystute mit ihrem goldgelb-weiß gescheckten Fohlen Misty. Handlungsorte sind die Stadt und die Insel Chincoteague sowie deren menschenleere Nachbarinsel Assateague. Mitten durch Assateague verläuft die Grenze zwischen den Bundesstaaten Maryland und Virginia.

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Der Nordteil Assateagues, den ich mir als Erstes vorgenommen habe, gehört zu Maryland. Noch auf dem Festland, nahe dem charmanten Städtchen Berlin, stimmt ein Besucherzentrum auf das Abenteuer mit den ungezähmten Tieren ein. Von dessen Aussichtsplattform an der Sinepuxent Bay sah ich gestern meine ersten Ponys aus der Ferne.

Heute bin ich ihnen sehr viel näher, sehe, rieche ihre frischen Spuren sowohl nahe meiner Unterkunft als auch am Fahrbahnrand. Im Auto rolle ich südwärts, arbeite systematisch ab, was sich an Beobachtungsoptionen bietet: Dünenwanderpfade, Waldwege und Stege über Sumpf und feuchtes Marschland. Schilder warnen mich, dass selbstbestimmte, reiterlose Pferde am Verkehr teilnehmen könnten – so wie dieses Fohlen, das plötzlich aus dem Nichts heraus mitten auf der Straße steht.

Es ist ein junger brauner Hengst mit weißer Blesse, nicht älter als zwei Monate. Noch etwas tapsig und mit dem naiven Trotzblick kindlicher Entdecker mustert er mein Auto. Bevor ich mich entscheiden kann, was ich als Nächstes tue, stakst der Ponyjunge los und verschwindet im Gebüsch. Ich parke, steige aus und folge ihm mit Abstand. Durch die Zweige sehe ich fünf braune und weiß-braune Ponys – eine Band, wie es auf Englisch heißt. Als kleinste Einheit einer Herde besteht solch eine Gruppe in der Regel aus zwei bis zu zehn Stuten, ihrem Nachwuchs sowie einem Hengst.

Autos halten. Leute laufen auf die Tiere zu. »Bitte treten Sie zurück!«, sagt ein Mann in neongrüner Weste. Es ist Marcus Urioste von der »Pony-Patrouille«. »Vielen ist nicht bewusst, dass es sich um wilde, unberechenbare Tiere handelt. Es wäre kinderleicht für sie, einen Menschen umzurennen oder mit den Hufen oder Zähnen ernsthaft zu verletzen«, so der freiwillige Helfer. Deshalb sei es wichtig, Abstand einzuhalten – mindestens »eine Buslänge« (zwölf Meter).

Ereignisse mit menschlichen Verletzungen seien äußerst selten. Weitaus häufiger ziehen die Ponys den Kürzeren. »Sie leiden durch Verkehrsunfälle oder Menschenlebensmittel. Mindestens ein Todesopfer gibt es jedes Jahr«, berichtet Marcus und erinnert an das strikte Fütterungsverbot und Tempo 20.

Info- und Spendenkampagnen sollen helfen. Das Ergebnis der jüngsten Aktion: Im ganzen Reservat konnten über 200 Picknicktische mit pferdesicheren Schließfächern für Lebensmittel aufgestellt werden. »Dabei geht es nicht nur um die Gesundheit der Tiere. Denn gewöhnen sie sich an das extra Nahrungsangebot, verlieren sie die Scheu und werden zudringlich bis aggressiv«, so der ehrenamtliche Park-Mitarbeiter. Ein Hengst, der auf diese Weise sehr gefährlich für Besucher wurde, musste 2022 von der Insel gebracht werden.

Ich kehre nun dem Bundesstaat Maryland den Rücken, um den südlichen, in Virginia gelegenen Teil des 60 Kilometer langen Eilands zu erkunden. Im dortigen Chincoteague National Wildlife Refuge lebt – von der Straße abgezäunt – die zweite Herde, mit rund 200 Tieren deutlich größer. Auch befinden sich die Ponys auf der Virginia-Seite im Unterschied zu ihren staatlich verwalteten Artgenossen im Norden seit 1947 im Besitz der Freiwilligen Feuerwehr von Chincoteague.

Vor deren Gründung 1924 hatte die Kleinstadt regelmäßig gebrannt – nicht zuletzt, weil Rettungskräfte wie auch Löschtechnik fehlten. »Unsere Kameraden erhielten die Erlaubnis, zum allsommerlichen Pony-Festival einen Carnival (Kirmes) abzuhalten, um Spenden für die Ausrüstung zu sammeln. Zum gleichen Zweck versteigerte man auch 15 Ponys«, erzählt Denise Bowden, Feuerwehrfrau und »Saltwater Cowgirl«. Bis heute profitiere man davon, dass sich die Feuerwehr allein durch den Verkauf von Ponys finanziere.

Das Festival basiert auf einem alten Brauch, dem Pony-Penning (Einpferchen). »Der stammt aus der Zeit, als noch private Viehzüchter Besitzansprüche auf die wild lebenden Pferde hatten«, weiß Denise. Einmal jährlich trieben sie die Tiere zusammen, um sie zu kennzeichnen, zuzureiten oder zu verkaufen. Bereits im 18. Jahrhundert wurde dieses Ereignis von Volksfesten begleitet.

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Heutzutage zieht das Festival jährlich Tausende Besucher an. Rund 40 000 kamen 2022. Highlight neben der Auktion ist der »Pony Swim«. Auf dem Weg von Assateague nach Chincoteague durchquert dabei die ganze Herde aus dem Süden – ohne Alte, Trächtige und Mütter mit Neugeborenen – den knapp 300 Meter breiten Ozeankanal zwischen beiden Inseln.

Um das zu erleben, muss ich zunächst zurück aufs Festland. Denn der hohe Grenzzaun zwischen Maryland und Virginia trennt nicht nur die zwei Ponyherden. Zugleich erlaubt er keine durchgehenden Wanderwege oder Straßen.

Kurz vor Sonnenuntergang spaziere ich durch Chincoteague. Zwischen den hübschen Häusern an der Main Street entdecke ich im letzten Tageslicht das Bronzedenkmal eines Fohlens. Es ist die junge Stute Misty, bekannteste Bewohnerin der Insel. Vis-à-vis im »Island Theatre« läuft die Verfilmung (1961) ihres Ponylebens, wie es Marguerite Henry in ihrem Buch beschreibt. Davor, auf einer Gehwegplatte aus Beton, verewigte sich das Kultpferd mit seinem Hufabdruck.

Die Nacht ist kurz. Im Morgengrauen mache ich mich auf den Weg zum Assateague Channel. Doch an der Pony Swim Lane herrscht längst reges Treiben. Manche haben sich die besten Plätze an der Gasse schon am Vorabend gesichert und vor Ort campiert. Auf dem Kanal entlang der Schwimmstrecke drängen sich die Boote. Auch am Ufer wird es immer enger. In den ersten Reihen reicht dem Publikum das Wasser bis zu den Knien. Weiter westlich stehen viele knöcheltief im Schlamm.

Trotz alldem herrscht beste Stimmung. Alle reden über Pferde. Immer wieder taucht dabei der Name Misty auf. Feuerwehrfrau Denise Bowden schätzt, für rund ein Drittel der Besucher sei es reine Nostalgie, nach Chincoteague zu kommen: »Für sie ist es ein Kindheitstraum, der hier einmal im Jahr lebendig wird.« Die anderen, so meint die Aktivistin, seien Pferde-Interessierte inklusive potenzieller Käufer und schließlich jene, die sich einfach unterhalten wollen.

Viele Tausend warten mittlerweile. Endlich gibt die rote Nebelfackel das Signal zum Start. Berittene »Saltwater-Cowboys« und »-Cowgirls« treiben die Pferde in das Wasser. Davon abgesehen, dass die Tiere von Natur aus schwimmen können, ist die Durchquerung des Kanals für die meisten schon Routine. Deshalb haben auch die jungen, unerfahrenen Ponys kaum Angst und folgen ohne Zögern. Zwei Rettungsboote eskortieren sie für alle Fälle.

Wie ich durch meine lange Fotolinse prima sehe, nehmen die Erwachsenen den Nachwuchs in die Mitte und kümmern sich liebevoll um ihn. Zwei junge Hengste, hitzig paddelnd, geraten aneinander. Die Rangelei währt nur Sekunden. Sie wissen wohl, dass sie noch Energie zum Vorwärtskommen brauchen. Auf halber Strecke dreht ein Halbwüchsiges plötzlich um und reiht sich doch gleich wieder ein. Ein Kraftakt ist die Tour für alle.

Von Osten stößt die Sonne durch die weiße Wolkendecke. Im Gegenlicht erscheint die Silhouette aus 200 Pferdeköpfen. Sie alleine ragen aus dem Wasser, die Ohren zeigen spitz nach oben. Lauter als die Schwimmgeräusche höre ich das Wiehern, Schnauben, Stöhnen. Jetzt nah genug, erkenne ich in den Gesichtern Anstrengung und Aufregung, doch auch das Selbstbewusstsein starker Charaktere. Vom ersten bis zum letzten stolzieren alle Ponys so wie Sieger aus den Fluten und schütteln stolz die nassen Mähnen.

Nach langen fünf Minuten, die mir wie eine Ewigkeit erschienen, steht die gesamte Ponyherde direkt vor uns und stärkt sich mit frischem Ufergras. Morgen ist Auktion. Danach können die allermeisten Tiere wieder auf die Heimatinsel schwimmen. Ich werde ihnen auf dem Landweg folgen und freue mich schon darauf, sie am Strand zu treffen. Diesmal stehe ich so früh wie Emma auf.

Die Recherche wurde unterstützt von Capital
Region USA.