nd-aktuell.de / 28.07.2023 / Kultur / Seite 1

Passdeutsche Kulturjuden und rübennäsige Kartoffelfressen

Warum ich in die Schweiz auswanderte, aber auch dort als ein »Dütscher« gelte

Alexander Estis

Wenn man eine Alternative sucht für Deutschland, kann man, zumindest solange man noch nicht gänzlich petryfiziert ist, in die Schweiz auswandern oder aus Raguhn-Jeßnitz nach Dittelsheim-Heßloch. Dort, in Dittelsheim-Heßloch, gibt es zwar keinen Schweizer Käse, aber dafür reichlich Löcher – im Asphalt, im Haushalt, in der Stimmung. Und da sind die Heßlöcher als solche noch nicht einmal mitgezählt, von denen einige gewiss sogar doppelt zählen müssten, weil auch unter ihnen Arschlöcher zu finden sein werden. Über die kann man ausgiebig die Nase rümpfen, und wo jede Nase Grund genug hat zum Rümpfen und Luft genug hat zum Atmen, da lässt es sich gut aushalten.

Aber dann wiederum: Wenn ich die Nase stark genug rümpfe, fliege ich auf den Nasenflügeln davon. Ihr wisst ja, dass wir Juden nicht nur große Nasen haben, sondern ohnehin entwurzelte Luftmenschen sind. Das ist zwar ein Stereotyp, aber immerhin ein gefährliches. Denn wir sind ja nicht nur Migrationsprofis, sondern auch Integrationsprofis. Wir haben uns hier schon so oft integriert, wir sind unbestritten deutsche Integrationsmeister. Wir schlagen schnell Wurzeln. Ihr könnt fest davon ausgehen: Jedes Mal, wenn die Weidel »Volk« sagt, hat sich gerade ein Jude erfolgreich in Deutschland integriert.

Ich zum Beispiel habe mich in Deutschland schon derart integriert, dass ich sogar in die Schweiz gezogen bin, um mich dort über den Stinkekäse aufzuregen. Der Integrationsprozess – oder vielmehr, wenn ihr erlaubt, mein Integrationskampf – in Deutschland wurde mir nach 20 Jahren schlichtweg zu alltäglich. Obwohl es mir natürlich durchaus imponiert, die Früchte meiner geglückten Integration, meiner perfekten Verwurzelung auf deutschem Boden immerfort ernten zu können. Etwa wenn ich noch heute von Ingeborg und von Hildegard und sogar von Waltraud erfahren darf, dass mein Deutsch ziemlich gut sei.

Manchmal werde ich ob dieses Lobes sogar überheblich genug, mich für einen deutschen Schriftsteller zu halten. Welch eine Hybris! In einem Anfall solcher Hybris befand ich meine Integrationsbiografie in Deutschland für zu langweilig, zu simpel und zu trivial. Ich brauchte eine neue Herausforderung, an der sich mein von den Integrationsbeauftragten in der Integrationsbehörde herausgeforderter Integrationswille hätte abarbeiten können. Also zog ich, wie schon gesagt, in die Schweiz. Und was glaubt ihr? Die nannten mich dort sogleich einen »Dütschen«. Dafür hatte die Hamburger Einbürgerungsbehörde acht Jahre gebraucht.

Wie mein Freund Mati sagt: »Was willst du? Die Ausländerbehörde ist ein Tempel. Du musst zu ihren Göttern beten, dann erhören sie dich – vielleicht.« Amen und emes, wahr gesprochen. Aber vermutlich denkt er dabei heimlich daran, was seit babylonischer Zeit mit den Tempeln passiert, in denen wir beten … Ich könnte es keinem verübeln. Man soll nicht streng urteilen.

Es sei denn, man ist Beamter, zum Beispiel in der Ausländerbehörde. Der Beamte hat Strenge zu wahren – und dabei manchmal sogar über die Strenge zu schlagen, selbst wenn die Stränge streng genommen mit »ä« zu schreiben sind, denn sie kommen von »Strang«, und zwar alle vom gleichen, an dem man übrigens nicht erst ziehen sollte, wenn alle von ihnen reißen.

Aber das weiß der Beamte nicht, denn er hat die Etymologie nicht studiert und vermutlich nicht einmal die Entomologie. Dennoch weiß er intuitiv: »Pass« kommt nicht von »Spaß«, deshalb heißt er auch nicht mehr »Paß«, und deshalb heißt es noch immer nicht »Spass«, obwohl das Wort so eigentlich mehr Spaß machen würde. Nur in der Schweiz heißt es »Spass«, aber dort heißt es auch »heisst«, deshalb heißt das noch gar nichts. Jedenfalls: »Pass« kommt eben nicht von »Spaß«, sondern von »Anpassung«.

Auch ich wusste das schon früh, weil mein Deutsch ganz gut war, und hatte mich deshalb für den Einbürgerungstermin vorab ganz passabel integriert. Dabei wollte ich eigentlich nie Bürger sein, ich fühlte mich schon immer eher als Bohemien oder zur Not auch als Genosse. Vielleicht zieht es mich deshalb in die Schweiz – dort kann ich mich immerhin Eidgenosse nennen.

Jedenfalls: Ich wollte gar nicht eingebürgert werden, mir ging es einzig und allein um die Sprachprüfung, denn ich wollte von Behördenmitarbeiterin Ingeborg Mürbe-Herberichs hören, dass mein Deutsch gut war. Mein Deutsch war ja, das sollte man noch mal sagen, wirklich ganz gut. Allein – einige Sachen verstand ich damals trotzdem noch nicht. Zum Beispiel: Warum kriegt man einen Pass, wenn man sich angepasst hat, aber keinen Ausweis, wenn man ausgewiesen wird?

Heute weiß ich es. Und daran sieht man, ich habe den entscheidenden Schritt vollzogen – von der Buchreligion in die Bürokratienation, vom Eingewanderten zum Eingebürgerten, von Aaron zu Alman, vom Kulturjuden zum Passdeutschen. Obwohl ich lieber Spaßdeutscher geworden wäre, aber die Etymologie ließ es nicht zu, die Wissenschaft von den Wurzeln. Insofern wurde ich bloß von Rübennase zu Kartoffelfresse. Das sind zwar auch Stereotype, aber dafür gleich zwei. Und immerhin gehört beides zum Wurzelgemüse.