nd-aktuell.de / 02.11.2023 / Reise / Seite 1

Rockpooling: Einblick bei Ebbe in die Welt unter den Wellen

Gummistiefel, ein wenig Geduld und Irlands grandiose Küstenlandschaft – mehr braucht es nicht, um auf Rockpool-Safari zu gehen

Nicole Quint
Rockpooling kann süchtig machen: Auch die Autorin ist dieser Form der Meeresbeobachtung verfallen.
Rockpooling kann süchtig machen: Auch die Autorin ist dieser Form der Meeresbeobachtung verfallen.

Wenn sich der Ozean zweimal am Tag für einige Stunden zurückzieht, hält das zerklüftete Grau der Felsen stets ein wenig von seinem salzigen Wasser zurück, sodass sich in den Kuhlen des Gesteins flache Meerespfützen bilden. Einige dieser silbrig glänzenden Himmelsspiegel sind so klein wie Teller, andere breit wie Planschbecken. Rockpools nennen Iren und Briten diese Tümpel, die wie kleine Fenster zu einem Kosmos sind, der den Menschen meist verborgen bleibt. Diesen zu erforschen, gehört zu den beliebtesten Hobbys von Küstenbewohnern, gleich welchen Alters: Rockpooling[1].

Eine teure Ausrüstung braucht es nicht, um diesem Zeitvertreib zu frönen. Wasserdichte Hosen und Gummistiefel mit rutschfester Sohle genügen. Wer die Lebewesen aus nächster Nähe betrachten möchte, bringt noch einen Eimer und ein Vergrößerungsglas mit. Wichtiger als jedes Equipment sind allerdings unerschöpfliche Neugier und Ausdauer.

Nie weiß man, was man entdecken wird. Dabei enttäuscht der erste Blick ins Becken oft: Nichts außer einem Gewirr struppiger Algen in allen Formen und Farben weht im flachen Wasser wie die wirren Haare einer Meereshexe, und auf dem Grund schimmert ein Bett perlmuttfarbener Muschelschalen – durchaus dekorativ, aber keine echte Attraktion.

Taucht man aber seine Finger in den Tümpel, kommt Bewegung in die kleine Welt – da rutscht, wirbelt und flitzt es in allen Ecken. Mit der Gewissheit, nicht vergeblich zu warten, bleiben Rockpooler nun so still und unbewegt wie möglich am Beckenrand hocken und warten gespannt darauf, was da unten als Erstes wieder aus seiner Starre erwacht. Winzige, fast gläserne Garnelen zum Beispiel, deren schwerelose Zellophankörper über den Grund tänzeln, flache Fischlein, die durch smaragdgrüne Seegrasbüschel stöbern, und ein Paar gepunktete Augen, die auf Stielen aus dem Dunkel eines Schneckenhauses spähen und einem scheuen Einsiedlerkrebs gehören. Meeresbewohner, die hier Zuflucht genommen haben, um die Zeit des Niedrigwassers zu überstehen, um nicht Opfer gefräßiger Möwen und Austernfischer zu werden.

How to go rockpooling | Natural History Museum

Nach und nach treten immer mehr Tiere ans Licht. Seespinnen balancieren auf ihren zarten Gliedern umher. Schnecken mit spiralförmig gewundenen Häusern kriechen langsam durch den Algenwald, und eine grüne Krabbe, die kaum größer als ein Daumennagel ist, wagt sich vorsichtig aus einer Felsspalte hervor. Und was war das? Ein Hummer, der kurz aus seiner Höhle lugte? So leicht gibt der Ozean seine Geheimnisse nicht preis.

Je länger man dasitzt und schaut, desto mehr sieht man: Seepocken und Strahlenflosser, Sandhüpfer und auch einige Anemonen. Auf dem Trockenen sehen sie mit eingezogenen Tentakeln wie dicke Marmeladenkleckse aus, unter Wasser aber stülpen die tiefroten Klumpen ihre Fangarme strahlenförmig nach außen.

Auf der Wunschliste jedes Rockpool-Entdeckers ganz oben steht der orangefarbene Gemeine Seestern, doch der bevorzugt etwas tiefere Gewässer. Sein kleiner Vetter hingegen, der Fünfeckstern Asterina gibbosa ist in Felsenbecken häufig zu Gast. Er gleicht einem gut gepolsterten Kissen und sieht deshalb noch starrer und unbeweglicher aus als seine größeren Verwandten. Tatsächlich bleiben seine Arme auch vollkommen steif, wenn er beginnt sich seinen Weg zu bahnen und wellenartig über den Seetang gleitet. Hunderte von durchsichtigen Tentakelfüßen, die unter seinem Körper hervortreten, treiben ihn an.

Hebt man den kleinen Seestern vorsichtig aus dem Wasser und dreht ihn um, kann man auf seiner Unterseite am Ende jedes Tentakels eine blasse Verdickung erkennen, die sich an jeder Oberfläche festsaugen kann. Wieder richtig herum gedreht, bleibt der Kissenstern auch prompt an der Handfläche kleben und muss erst sanft überredet werden, wieder loszulassen, wenn man ihn seiner Welt zurückgibt.

Verzückender Anblick: Seesterne und Seeanemonen bei Ebbe
Verzückender Anblick: Seesterne und Seeanemonen bei Ebbe

Jeder Rockpool ist ein kleines Meeresaquarium voller bunter Phänomene. Diese Vielfalt beeindruckt und lässt die Beobachter begreifen, wie schützenswert das fragile Ökosystem der Ozeane ist. Einmal mit seiner Erforschung begonnen, gerät man in den lebenslänglichen Bann der Küste. Rockpooling kann zur Besessenheit werden, zu einer Sucht, die einen bei Wind und Wetter und zu allen Jahreszeiten zurück ans Wasser zieht, an diese aufregende Grenze zwischen Land und Tiefsee.

Hypnotisiert von hellblauen Quallen, Seehasen, Wellhornschnecken und Anemonen sitzt man dann über Stunden hinweg am Ufer und staunt. Rockpool-Expeditionen schenken einem Momente der vollständigen Absorption, in denen der Rest der Welt in Vergessenheit gerät.

Gut, dass die Flut die Rückkehr des Wassers geräuschvoll verkündet. Das anschwellende Meer schlägt seine Wellen immer kräftiger gegen die Felsen. Es gluckert, gurgelt und rülpst schäumende Luftbläschen und mahnt so zur Rückkehr in die eigene Welt. Nach und nach werden die Rockpools geflutet, bis die Felslandschaft wieder völlig mit Wasser bedeckt ist – und mit ihr auch all ihre Wunder. Es gibt noch so viel zu entdecken.

Links:

  1. https://www.nhm.ac.uk/discover/how-to-go-rockpooling.html