nd-aktuell.de / 13.11.2023 / Politik / Seite 1

Seenotrettern droht Kriminalisierung

Nassim Madjidian kritisiert eine von der Ampel geplante Gesetzesverschärfung

Interview: Melanie M. Klimmer

In der vergangenen Woche sorgte die Nachricht für Unruhe, dass ein Gesetzentwurf aus dem Bundesinnenministerium auch eine Änderung von Paragraf 96 des Aufenthaltsgesetzes beinhaltet. Worum geht es dabei?

Der Entwurf kriminalisiert die Beihilfe zur sogenannten illegalen Einreise in den Schengenraum, wenn »wiederholt oder zu Gunsten von mehreren Ausländern« gehandelt wird. Ein »Vermögensvorteil« wäre dafür dann nicht mehr Voraussetzung. Sofern also ein Schiff einer privaten Hilfsorganisation einen Hafen oder die Küstengewässer Italiens ohne ausdrückliche Genehmigung ansteuert, können sich Seenotretter*innen dann potenziell strafbar machen. Diese Möglichkeit der Strafbarkeit eröffnet den Staatsanwaltschaften zudem die Einleitung einer Reihe von Ermittlungsmaßnahmen, auch dann, wenn Gerichte zu der Ansicht gelangen sollten, dass sich die betreffenden Personen nicht strafbar gemacht haben, weil sie verpflichtet waren, Menschen aus Seenot zu retten.

Gorden Isler, Vorsitzender der deutschen Seenotrettungsorganisation Sea-Eye, fordert mehr Eindeutigkeit. Was würde es für die Seenotrettung bedeuten, würde der Entwurf angenommen?

Die Gesetzesänderung ist noch nicht vom Tisch. Das Innenministerium ist nach meiner Einschätzung nicht von seinen Plänen der Gesetzesänderung abgerückt und vertritt den Standpunkt, dass sich Seenotretter*innen nach dem neuen Gesetz weiter nicht strafbar machen. Über Ermittlungsverfahren entscheiden allerdings die Staatsanwaltschaften, über Verurteilungen Strafgerichte. Damit ist die Rechtsauffassung des Ministeriums unerheblich. Tatsächlich lenkt das Ministerium mit seiner Auskunft, Seenotrettung sei von der Gesetzesänderung nicht umfasst, von dem Umstand ab, dass diese dennoch die Möglichkeit einer Verurteilung von Menschen eröffnet, die uneigennützig handeln.

Wie sind diese innenpolitischen Entwicklungen im Kontext der Debatte um das EU-Asylrecht einzuordnen?

Die EU-Kommission hat im Rahmen des von ihr vorgeschlagenen Asyl- und Migrationspakts auch das Thema »Schiffssicherheit« auf die Agenda gesetzt. Es ist damit zu rechnen, dass im nächsten Jahr EU-weite Richtlinien für Schiffe von Nichtregierungsorganisationen kommen. Was das für private Seenotrettungsinitiativen bedeuten wird, ist noch nicht klar. In Deutschland aber hat das Bundesverkehrsministerium wiederholt versucht, NGO-Schiffe unter deutscher Flagge mit Mitteln des Schiffssicherheitsrechts festzuhalten. Bemühungen um eine Reform der deutschen Schiffssicherheitsverordnung liegen aber offenbar auf Eis.

Der Haushaltsausschuss des Bundestages hatte Ende 2022 noch Zuschüsse für private Seenotrettungsorganisationen beschlossen. Die italienische Regierung hat wiederholt deren Streichung gefordert. CDU und CSU unterstützen dies, und der frühere Innenminister Wolfgang Schäuble sagte kürzlich, die private Seenotrettung sei »Geschäftsgrundlage der Schlepperkriminalität«.

Die Mär, dass Seenotrettung ein »Pull-Faktor« sei, also Anreize zur Flucht schaffe, ist widerlegt, wie Studien aus den Jahren 2019 und 2023 zeigen, über deren Ergebnisse in der renommierten Zeitschrift »Nature« berichtet wurde. In den Untersuchungszeiträumen konnte keine Verbindung zwischen der Präsenz privater Seenotrettungsschiffe vor der tunesischen und libyschen Küste und der Zahl der Migrant*innen festgestellt werden, die sich auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer nach Europa machen. Sie riskieren das auch dann, wenn keine NGO-Schiffe in der Nähe sind.

In Italien, Griechenland und Spanien werden seit Jahren schon »Solidarity Crimes« strafrechtlich verfolgt, obwohl es eine Rechtspflicht zur Seenotrettung gibt. Nach Angaben von Borderline Europe e.V. waren im Februar 2023 mehr als 2000 Menschen in griechischen Gefängnissen inhaftiert, die angeblich vorsätzlich anderen geholfen haben sollen, ins Hoheitsgebiet eines EU-Mitgliedstaates einzureisen.

Ja, diese Kriminalisierung liegt im »Trend«. Erschreckend ist, wie viele Geflüchtete und humanitäre Helfer als »Schlepper« in Mittelmeeranrainerstaaten angeklagt und verurteilt werden, vor allem in Griechenland. Die europäische Rechtsgrundlage dafür ergibt sich aus der sogenannten Schleuser-Richtlinie, nach der es für die Strafbarkeit von Schlepperei keine Rolle mehr spielt, ob jemand daraus finanzielle Vorteile zieht oder nicht. Mit der Verschärfung des Paragrafen 96 des Aufenthaltsgesetzes würde sich Deutschland in diese europäische Entwicklung einreihen.

Die Linke-Bundestagsabgeordnete Clara Bünger plädiert dafür, die EU-Grenzbehörde Frontex zu einer staatlich koordinierten europäischen Seenotrettungsagentur umzubauen. Was halten Sie von der Idee?

Tatsächlich müsste es eine gemeinsame Reaktion der EU-Staaten auf das Massensterben im Mittelmeer geben. Ein staatliches oder suprastaatliches Seenotrettungsprogramm würde zugleich nicht automatisch bedeuten, dass die zivilen Akteure verschwinden. In den Jahren 2015 und 2016 hat es eine sehr konstruktive Zusammenarbeit staatlicher und ziviler Schiffe auf dem zentralen Mittelmeer unter Koordinierung Italiens gegeben. Je mehr Schiffe, desto besser.

Angesichts des Trends der Einschränkung und Kriminalisierung privater Seenotrettung dürfte aber auch nicht auszuschließen sein, dass eine von Frontex geführte europäisch organisierte Seenotrettung eher der Abschreckung dienen könnte als einer Erfüllung völkerrechtlich-humanitärer Verpflichtungen. Wie sehen Sie das?

Sie meinen, dass man den Bock zum Gärtner macht? Frontex steht berechtigterweise in der Kritik. Es könnte sich dennoch lohnen, über den Vorschlag von Clara Bünger nachzudenken – wenn er denn je real wird –, wie sich die Agentur für eine menschenrechtskonforme und seenotrettungsfreundliche Politik einsetzen lassen kann.