Es tut mir leid, dass ich in dieser Kolumne immer wieder Beispiele aus meinem popeligen Alltag bringen muss, aber irgendetwas zwingt mich dazu. Ich hatte kürzlich ein Vorgespräch für eine Veranstaltung. Vorgespräche sind etwa so spaßig wie ein Zahnarztbesuch oder das Kuchenessen beim neunzigsten Geburtstag der angeheirateten Großtante. Denn dort vergewissern sich Veranstalter*innen, dass sie die richtigen »Expert*innen« eingeladen haben. Moderator*innen vergewissern sich, wie mein exotischer Name (»David ist jetzt der Vorname, oder wie?«, »Das ist aber kein Künstlername, oder?«) ausgesprochen wird, und man selbst vergewissert sich, in welcher Stadt die Veranstaltung nochmal genau stattfindet, zu der man eingeladen worden ist.
Bei dem besagten Vorgespräch, es handelte sich um einen Fachtag, auf dem ich Passagen aus meinem Buch lesen sollte, wurde ich im Verlauf des Gespräches gefragt, ob sich nicht eine Passage finden ließe, in der ich positive Begegnungen mit Jobcentern und anderen Hilfe-, Pardon: Unterdrückungssystemen erlebt hatte. Zur Erinnerung: In meinem Buch schreibe ich über den Zusammenhang von Armut und psychischer Erkrankung. Es heißt unter anderem deshalb »Keine Aufstiegsgeschichte«, weil meine Familie nicht eine einzige gute Erfahrung mit Jobcentern vorzuweisen hat.
Das habe ich der Veranstalterin gesagt. Betretenes Schweigen. »Ja, also Sie sollen bloß nicht etwas lesen müssen, was es nicht gibt«, antwortete sie. Und ich dachte: Ja, kann ich auch nicht.
Dahinter steckt ein Phänomen, dem ich wieder und wieder begegne. Menschen empfinden beinahe körperliche Schmerzen, wenn ich die Welt für ihren Geschmack zu destruktiv zeichne. Sie verzweifeln regelrecht, wenn ich aus meiner Geschichte nichts Positives ziehen kann. Aber so ist es leider. Die Armutserfahrung war für mich nicht gut. Es gibt nichts auf der Welt, das die Zustände rechtfertigt, in denen ich gelebt habe – und in denen viele Menschen immer noch leben.
Eine Frau erzählte mir mal, dass sie selbst früher arm gewesen sei, dass ihre Armut ihr allerhand beigebracht habe und dass sie dankbar dafür sei. Erst war ich empört, dann hörte ich in meinem Kopf die mahnende Stimme, die mir sagte: »Olivier, es sind nicht die Menschen, die Schuld haben an dem Bullshit, den sie von sich geben. Es sind die Mechanismen, die Anreize schaffen, sich selbst zu belügen, indem man gesellschaftlich Erwünschtes von sich gibt.« Und das sind Sätze, in denen man seiner Umwelt zeigt, dass es einen Lerneffekt gibt. Die Armut, in der ich gelebt habe, war für etwas gut. Ich kann sie verwerten. Sie in etwas Wunderbares konvertieren. Es ist die Scheiße-zu-Gold-Erzählung, die alle hören wollen.
Es gibt in diesem Land eine Sehnsucht, unterdrückerische Systeme zu legitimieren. Dahinter steht natürlich der Wunsch nach Absolution. Tenor: Es laufen zwar einige Dinge nicht richtig, aber grundsätzlich sind wir auf dem richtigen Weg. Das System muss bloß nachjustiert werden.
Es geht um die Frage, wie Geschichten von unten erzählt werden dürfen. Nicht mit einem positiven Ausblick zu enden, wird sozial sanktioniert. Wenn wir nicht in Gefälligkeiten versinken wollen, werden wir lernen müssen, Geschichten auf eine Art und Weise zu erzählen, die dem erfahrenen Leid gerecht wird. Wir selbst und alle, die von sozialen Gemeinheiten unterdrückt werden, haben nichts davon, wenn wir lachend sagen, es war doch alles nicht so schlimm. Denn das war es. Und das sollte niemand vergessen dürfen – wir erst recht nicht.