Bis letzte Woche waren die Türen des »Ikarus« in Lichtenberg noch geöffnet. »Es heißt immer Ikarus sei abgestürzt, aber er ist auch aufgebrochen ohne zu wissen, was kommt. In der Stadtteilarbeit ist es ähnlich, man ist mit Menschen unterwegs und weiß nicht immer, was kommt. Wichtig ist es, in Bewegung zu bleiben«, erzählt Michael Heinisch-Kirch gegenüber »nd« über ein Stadtteilzentrum, dessen Name sich aus den Anfangsbuchstaben der Ortsteile Rummelsburg und Karlshorst zusammensetzt. Heinisch-Kirch ist Vorsitzender der sozialdiakonischen SozDia-Stiftung, welche das »Ikarus« 13 Jahre lang trug.
Überrascht und überfordert ist er von dem plötzlichen Verschwinden einer Institution im Kiez. Im »Ikarus« gab es Beratungsangebote zu Mietfragen oder zur Beantragung für Förderprojekte des Kiezfonds. Hier wurde die erste Foodsharingstelle in Lichtenberg etabliert. Es fanden Ausstellungen statt und das mobile Bürgeramt bot zweiwöchentlich extra Termine für Menschen an, die beispielsweise durch eine Behinderung gesellschaftlich benachteiligt sind. Es gab sowohl Angebote der sozialen Arbeit als auch selbstorganisierte Projekte, die von Anwohner*innen initiiert wurden.
Eines davon ist das »Kino für Karlshorst«, welches erst im November von Bürgermeister Martin Schaefer (CDU) mit dem Lichtenberger Bezirkstaler ausgezeichnet wurde. Ehrenamtliche Karlshorster*innen organisierten ein Kino für den Ortsteil, der selbst keins hat. Dabei bezogen sie eine ansässige Geflüchtetenunterkunft mit ein und zeigten internationale Filme in verschiedenen Sprachen und mit Untertiteln. »Karlshorster Bürger saßen mit Geflüchteten zusammen im Kino«, erzählt Heinisch-Kirch.
Ein weiteres und vielen Berliner*innen wahrscheinlich weitaus bekannteres Projekt war der Karlshorster Weihnachtsmarkt, der zehn Jahre lang stattfand. Aus dem »Ikarus« heraus engagierten sich Bürger*innen und finanzierten einen Markt mit dem Erlös vom Glühweinverkauf. Seit drei Jahren fand dieser auf der Trabrennbahn statt, zuvor noch vor dem Theater Karlshorst. »Russenoper« wurde dieses im Volksmund genannt, da es im sowjetischen Sperrgebiet für die deutsche Bevölkerung nicht nutzbar war. »Nach wenigen Jahren war dieser verschwundene Ort ein Platz, der zurück ins Gedächtnis der Karlshorster kam und ihrer wurde«, erzählt Heinisch-Kirch, der Teil der Weihnachtsmarkt-Bläsergruppe ist.
Nun musste das Stadtteilzentrum mit langer Geschichte plötzlich schließen. Grund dafür ist das Interessenbekundungsverfahren des Bezirks, dessen Jury sich nach Aussagen des Bezirksamts gegenüber »nd« für ein gemeinnütziges Projekt der Albatros gGmBH entschied. Bemerkenswert ist, dass neben dem »Ikarus« zuletzt auch dem Jugendclub »Linse« die bezirkliche Förderung wegbrach[1] – ebenfalls ein Projekt der SozDia-Stiftung. »Wir führen seit zwei Jahren einen Dialog mit dem Bezirksamt, weil wir nach Tarif zahlen und das Bezirksamt beklagt, dass unser Tarifvertrag unwirtschaftlich sei«, erzählt Heinisch-Kirch.
106 000 Euro habe das Interessenbekundungsverfahren ausgeschrieben. »Eine Vollzeitstelle allein kostet 60 000 Euro«, sagt Heinisch-Kirch, dem die Qualität der sozialen Arbeit und die Arbeitsbedingungen der Angestellten wichtig sind. Zwei Stellen hätte die SozDia-Stiftung selbst finanzieren sollen. Die Stiftung bot laut Aussagen Heinisch-Kirchs dem Bezirk an, eine Vollzeitstelle und eine Viertelstelle selbst zu zahlen, dieser lehnte mit Begründung auf »Sondervorstellungen« ab. Dabei finanziere sich das Projekt, welches seit 2018 nach Tarif zahlt, bereits quer.
»Ich halte diese Entwicklung für ein Desaster«, sagt Heinisch-Kirch, der die Schließung der »Linse« und des »Ikarus« in ein politisches Klima einordnet, bei dem sich der Staat zunehmend seiner sozialen Aufgabe entziehe[2], »Organisationsmöglichkeiten zu schaffen, damit Bürger sich selbst organisieren können«. Er verweist darüberhinaus auf die hohen Kosten, die der Neuaufbau sozialer Projekte in einer Stadt mit sich zieht, in der die Mieten steigen und Gewerbeflächen Spekulationsobjekte sind.
»Still und leise bricht die soziale Infrastruktur der Stadt weg. Die Bürger sind zunehmend in ihrer eigenen Bubble und die Rechtspopulisten werden mehr«, betont er und erzählt von langjähriger Stadtteilarbeit. Soziale Zentren nehmen eine besondere Funktion gegen den Rechtsruck ein. »Wenn sich im Kiez etwas verändert und die Nachbarn verunsichert sind, dann ist es wichtig, dass sie einen Begegnungsort haben, an dem sie diese Unsicherheit teilen, damit sie nicht wächst.« Dafür brauche es feste Ankerpunkte im Kiez, denn nicht jeder gehe auf eigene Faust auf die Suche nach einer Community.
»Was ich jetzt tue, kann ich mir gar nicht vorstellen ohne meine politische Bildung der evangelischen Jugend in der DDR«, betont Michael Heinisch-Kirch auf Rückfrage zu seiner bewegten Vergangenheit. Dem einen oder anderen wird der Name des DDR-Bürgerrechtlers vielleicht etwas sagen. »Wir wollten keine Wiedervereinigung, wir wollten den Staat demokratisieren, dafür mussten wir ihn erst mal abschaffen. Womit wir nicht gerechnet haben, war, dass die Mehrheit in Ost und West dann etwas anderes wollte.« Für ihn gelte es politisch noch heute, Orte zu schaffen, damit Menschen sich gemeinsam organisieren können[3]. »Deshalb schmerzt mich die Schließung des ›Ikarus‹.«