nd-aktuell.de / 09.01.2024 / Kultur / Seite 1

25 Jahre Sopranos: Mafiöse Popkulturgeschichte

Als »The Sopranos« am 10. Januar 1999 bei HBO auf Sendung gingen, ahnte wohl niemand, dass die Serie ein Genre revolutionieren würde

Jan Freitag
Der unvergessliche James Gandolfini als Tony Soprano: »Haben denn alle Leute in meinem Leben eine Vollmeise?«
Der unvergessliche James Gandolfini als Tony Soprano: »Haben denn alle Leute in meinem Leben eine Vollmeise?«

Vor 25 Jahren, der Bundeskanzler hieß Schröder und in New York kratzten noch zwei Türme mehr an der Wolkendecke, waren Horizonte für viele nur Striche in Landschaften. Das Ende vom Ausblick gewissermaßen – bei Sonne hübsch anzuschauen, bei Regen weniger. Als horizontal galt somit zwar ein angeblich besonders altes Dienstleistungsgewerbe, aber gewiss kein Unterhaltungsformat. Bis zum 10. Januar 1999.

An diesem Wintertag, fernab der Dauerkrisen von heute, fährt Tony Soprano am World Trade Center vorbei zur Psychotherapeutin Dr. Melfi und bricht nicht nur ein Tabu der organisierten Kriminalität, er schreibt auch ein Stück Popkulturgeschichte. Vier Monate nämlich, bevor Robert de Niro Billy Crystal in »Reine Nervensache« seine Erektionsstörungen offenbart, entsteht im Nachbarstaat New Jersey das neue Kino Fernsehen.

Von Panikattacken geplagt, setzt sich der fiktive Mafiaboss sagenhafte sechsundachtzigmal fünfundfünfzig Minuten auf die Couch seiner Seelenklempnerin und erweitert das maximal männliche Mobster-Genre auch sonst um frische Perspektiven. Schließlich gibt es bei »The Sopranos« schwache und schwule, exzentrische und spießige, empathische und skrupellose, arme und reiche, nette und fiese Mafiosi, aber praktisch keine Polizisten.

Und HBO inszeniert sie nicht nur vielschichtiger als seinerzeit auf Leinwand und Bildschirm denkbar; der Kabelkanal tut es auch in einer erzählerischen Tiefe, die bis dato undenkbar schien. Nahezu 80 Stunden verteilt auf sechs Staffeln ein und demselben Cast dabei zuzusehen, wie er sich mit schmutzigen Geschäften herumschlägt – das kannte man zwar bereits von »Dallas« und »Denver«.

Das aber waren »long-arc drama« genannte Endlosserien. Seifenopern, in denen Personal und Setting, also J.R. und Alexis, zwar Staffel für Staffel dieselbe Ölbranche aufmischen. Bis auf seltene Ausnahmen waren die 565 Folgen beider Formate dagegen in sich abgeschlossene Kapitel turbokapitalistischer Niedertracht, während Tony Sopranos Familiengang sich und andere von Cliffhanger zu Cliffhanger durchs schäbige Müllentsorgungsbusiness im New Yorker Speckgürtel quälte.

Den großen Networks wie Fox oder ABC war David Chases TV-Version eines »Paten« in der Midlife-Crisis von Haarausfall über Profilneurose bis Ehestress jedoch zu komplex für gängige Sehgewohnheiten. Stattdessen ging HBO ins Risiko – und definierte den Begriff »Qualitätsfernsehen« um. Dank der »Sopranos« nämlich gelten fortlaufende Fiktionen immer dann als horizontal, wenn sie das ganz große Rad facettenreicher Charaktere drehen. Und von denen schart James Gandolfinis Titelfigur Dutzende um sich.

Tonys ebenso standes- wie selbstbewusste Frau Carmela (Edie Falco) zum Beispiel, ihre Pubertiere Meadow (Jamie-Lynn Sigler) und A.J. (Robert Iler), seine Capos Chris (Michael Imperioli) oder Paulie (Tony Sirico) und natürlich die originellste Figur, seit Mervyn LeRoy das Metier mit »Little Caesar« 1931 aus der Kinotaufe gehoben hatte: Silvio Dante, buchstäblich verkörpert von Bruce Springsteens Stammgitarrist Steven van Zandt in seiner ersten Sprechrolle.

Sie alle durften das, was Bobby Ewing und Alexis Carrington serienzeitlebens versagt blieb: sich entwickeln. Vom Guten zum Schlechten ins Mittelmäßige und wieder zurück oder umgekehrt, Hauptsache so variabel, dass kein Einzelteil dem anderen gleicht und trotzdem ins Gefüge passt. Mit diesem Qualitätskonzept hat HBO 21 Emmys und fünf Golden Globes gehortet und katapultiert seine »Sopranos« bis heute verlässlich auf Platz eins der besten Serien aller Zeiten.

In einem Listing verwies der Rolling Stone kürzlich »The Wire« oder »Breaking Bad« mal wieder auf die Plätze zwei bis drei, »Twin Peaks« oder »Game of Thrones« gar ins Mittelfeld. Was schon deshalb bemerkenswert ist, weil »The Sopranos« ästhetisch eher schlecht als recht gealtert ist. Kulisse, Schnitt, Tempo und Sound – all das ist »Diese Drombuschs« näher als, sagen wir: »Orange is the New Black« (Platz 37) oder »Homeland« (Platz 89). Epigonen, die ohne Vorarbeit der Sopranos kaum vorstellbar scheinen.

Wobei der deutsche Vergleich keineswegs despektierlich klingen soll. Abzüglich einer spröden 80er-Tristesse nämlich hatte Robert Stromberger mit seiner Mittelschichtsippe um die resolute Vera Drombusch (Witta Pohl) ein vielfach unterschätztes Monument horizontaler Erzählweise geschaffen – nur, dass es eher Reihe als Serie war und damit ähnlich aus Tony Sopranos Raster fällt wie der Heiratsfimmel südamerikanischer Telenovelas oder die dienstälteste TV-Serie überhaupt: »Coronation Street«.

Auch dort kreist der repetitive, in 11 000 Folgen seit 1960 meist biologisch selektierte Cast, analog zur deutschen »Lindenstraße«, ums Leben außergewöhnlich gewöhnlicher Briten. Theatralische Cliffhanger dienen da eher der Verstetigung als einer horizontalen Dramaturgie. Wer sich dagegen den finalen Abgang der Sopranos ins Gedächtnis ruft, wird merken, wie wenig es dem Wegbereiter des neuen Fernsehens um Wirkung um der Wirkung willen ging.

Tony und Carmela Soprano betreten darin nach einer endlosen Abfolge schicksalhafter Tiefschläge nebst Kindern ein Restaurant und es geschieht: nichts. Außer der spürbaren Angst des abgehalfterten Ex-Paten, die in jeder Geste, jedem Blick jeden Gastes Bestätigung sucht. Und findet. Ein Geniestreich, der vor allem auf brillanter Drehbuchkunst basierte und Autoren endlich in den Rang bekannter Regisseure hob.

Dass die Serie hierzulande kaum jemand sehen konnte, hat ebenfalls mit Angst zu tun. Quotenangst. Weil die Zuschauerzahl der Auftaktstaffel sechsstellig blieb, vergrub das ZDF den Rest erst Sonntagnacht, dann beerdigten sie ihn auf dem Friedhof öffentlich-rechtliche Feigheit, gleich neben »KDD – Kriminaldauerdienst« oder »Im Angesicht des Verbrechens«, »Breaking Bad« und »Six Feet Under«. Doch da der Kleinmut deutscher Programmredaktionen bekanntlich das sicherste Anzeichen für horizontale Qualität ist, wurde spätestens im März 2000 deutlich, wie brillant die Sopranos sind. Und wie beispielhaft für alles, was danach noch kam.

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