nd-aktuell.de / 31.01.2024 / Kultur / Seite 1

Multipolarität heißt die Zukunft

Johannes Plagemann und Henrik Maihack über das neue Selbstbewusstsein des Globalen Südens

Ulrich van der Heyden

Eigentlich ist es keine besonders neue Erkenntnis, dass der »Westen« den sogenannten Globalen Süden ausbeutet und dessen Interessen weitgehend ignoriert. Die Länder der früher »Dritte Welt« genannten Hemisphären spielen seit der Dekolonisation zu Beginn der 1960er Jahre nur dann eine Rolle in Politik und Öffentlichkeit, wenn von Katastrophen zu berichten ist, kriegerische Gewalt ausbricht oder es um Rohstoff- und Energielieferanten geht. Zunehmend jedoch zeigen sie ein neues, erstarktes politisches Selbstbewusstsein, das sich nicht zuletzt in der Diplomatie artikuliert.

Für Afrikaner, Asiaten und Lateinamerikaner ist »die westliche Doppelmoral«, wie sie sich in der selektiven Anwendung des Völkerrechts offenbart, »nicht erst seit dem Angriffskrieg gegen Irak eine Gewissheit«, konstatieren Johannes Plagemann und Henrik Maihack. Davor gab es Korea, Vietnam, Libanon, Libyen, Afghanistan ... Auch wenn viele jener blutigen Ereignisse in den hiesigen Medien und in der deutschen Erinnerungspolitik keine große Rolle mehr zu spielen scheinen, so sind sie doch in den gern als Entwicklungsländer bezeichneten Staaten nicht vergessen, ebensowenig die koloniale und neokoloniale Politik der Europäer.

Unter der Überschrift »Der lange Atem des Kolonialismus« verweisen die Autoren darauf, dass »Infrastrukturen der Ausbeutung« nicht nur an ehemaligen Sklavenumschlagplätzen entlang der afrikanischen Küsten zu registrieren sind, sondern generell die Wirtschaft auf dem sogenannten Schwarzen Kontinent prägen. Als Beispiel wird angeführt, dass die Europäische Union die Weiterverarbeitung von aus afrikanischer Erde gewonnenen Rohstoffen vor Ort noch immer erschwert. Afrikanische Staaten werden nach wie vor als billige Rohstofflieferanten angesehen. Von den Gewinnen aus der Verarbeitung ihrer Ressourcen haben die Völker nicht viel. Das betrifft begehrte Rohstoffe wie Kohle, Bauxit oder Erdöl ebenso wie landwirtschaftliche Erzeugnisse, unter anderem Kakao und Kaffee. Leider wird in diesem Buch, trotz vieler kritischer Fragen zu den Ursachen solcher Missstände, nicht überzeugend und tiefgründig genug dargelegt, wie es dazu kam und immer wieder kommt und warum die Milliardensummen an Entwicklungshilfe des Nordens für den Süden – oftmals Legitimation für Unrechtshandlungen – bisher nicht den erwarteten Erfolg gebracht haben.

Ein offensichtliches Ergebnis des neuen Selbstbewusstseins der Politiker in ehemals kolonisierten Ländern ist die Gründung des Brics-Staatenbundes. Das neue Selbstbewusstsein hat der indische Außenminister stringent in die Worte gefasst: »Europa muss aus dem Denkmuster herauswachsen, dass Europas Probleme die Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas.« Das Zitat ziert das Buchcover.

Die beiden Politikwissenschaftler, Afrika-Experten, gehen unter anderen der Frage nach, was die ureigenen Interessen und Motive des Handelns der Politiker des Südens sind. Warum teilen sie die Sichtweise des Westens auf die »übrige« Welt nicht, so etwa gegenüber Russland? Die Verfasser zeigen die Unterschiede der Wahrnehmung internationaler Probleme im Westen und im Globalen Süden auf. Plagemann/Maihack fordern, die immer offensichtlicher werdenden Unterschiede zwischen dem Norden und Süden klar zu benennen. Sie beklagen, dass die USA und Europa dies nicht zu erkennen scheinen, stattdessen an gewohnter Dominanz festhalten wollen. Sie erklären und begründen die tiefe Skepsis gegenüber dem Westen in Staaten des Globalen Südens und betonen, dass die von ihnen angestrebte Akzeptanz und Anerkennung sozialökonomischer und politischer Vielfalt große Chancen für die gesamte Menschheit böten. Multipolarität sehen sie als ein positives Zeichen für die Zukunft.

In den vielen zum Nachdenken anregenden Argumenten stützt sich das Autorenduo auf originäre Dokumente und Aussagen von Politikern aus Asien, Afrika und Lateinamerika, anerkannte wissenschaftliche Arbeiten sowie eigene Forschungsergebnisse. Es verwundert nicht, dass ihr Fokus auf Afrika gerichtet ist. Das Buch ist trotz wissenschaftlicher Seriosität leicht verständlich verfasst und sollte zur Pflichtlektüre für Studenten der Politikwissenschaft erhoben werden. Darüber hinaus sei es allen an Weltpolitik interessierten Lesern empfohlen.

Johannes Plagemann/Henrik Maihack: Wir sind nicht alle. Der Globale Süden und die Ignoranz des Westens. C. H. Beck, 243 S., br., 18 €.