nd-aktuell.de / 19.10.2007 / Kommentare / Seite 6

Die Hartz-IV-Knute

Rudolf Hickel
»Höchste Priorität muss die Bekämpfung der Armut bei der expandierenden Klasse der Erwerbsarbeiter haben.«
»Höchste Priorität muss die Bekämpfung der Armut bei der expandierenden Klasse der Erwerbsarbeiter haben.«

Die Nachricht hat selbst die Gesundbeter der real existierenden Marktwirtschaft aufgescheucht: Von 1991 bis 2006 stagnierte praktisch der Betrag, der real im Portemonnaie der abhängig Beschäftigten verbleibt. In den Jahren 2005 und 2006 sind die Bruttolöhne nach Abzug der Abgaben sowie der Berücksichtigung der Inflation sogar um 1,0 bzw. 1,7 Prozent gesunken. Dagegen konnten die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen hohe Zuwächse verzeichnen.

Ursachen für die Abkoppelung der Nettoreallöhne von der Wirtschaftsentwicklung sind die schwachen Zuwächse der effektiv gezahlten Löhne und der vor allem durch den Druck von Hartz IV expandierende Niedriglohnsektor. Nach der Definition der EU-Sozialcharta beziehen heute mehr als fünf Millionen Beschäftigte ein Arbeitseinkommen in der Nähe oder gar unterhalb der Armutsgrenze. Diese konkrete Erfahrung, zusammen mit der Angst vor Einkommens- und Jobverlust erklärt, warum die große Mehrheit in Umfragen meint, dass bei ihr der »Aufschwung« nicht angekommen sei. Die Versuche, diese Erfahrung sozialer Ungerechtigkeit als Fehlprodukt mangels Information in den Köpfen abzutun, sind arrogant, ja zynisch. Die gefühlte Ungerechtigkeit stimmt mit der faktischen ziemlich überein. Dies zu leugnen, dient am Ende nur dem Zweck, an den Verhältnissen nichts zu ändern.

Höchste Priorität auf der Agenda von Politik und Wirtschaft muss die Bekämpfung der Armut bei der expandierenden Klasse der Erwerbsarbeiter haben. Mindestlöhne müssen durch den Gesetzgeber gegen den Machtmissbrauch vieler Unternehmen gesichert werden. Politik ist gefordert, weil hier ein Marktversagen vorliegt.

Umso ärgerlicher sind die Kampagnen von Print-Massenmedien gegen die Einführung eines Mindestlohns. Das Verhalten des Springer-Konzerns offenbart eine Verquickung ökonomischer Interessen mit der Meinungs(un)freiheit von Journalisten. So basieren die Renditeerwartungen bei der über 70-prozentigen Beteiligung Springers an dem privaten Postzustellungsunternehmen Pin Group auf kalkulierten Hungerlöhnen, die deutlich unter den zwischen ver.di und dem von der Post AG dominierten Arbeitgeberverband fixierten Mindestlöhnen liegen. Wen wundert es da, dass im Massenblatt Springers zu Recht die Stagnation der Nettoreallöhne seit 1986 mit dicken Lettern gegeißelt wird und gleichzeitig der Notwendigkeit, mit Mindestlöhnen diese Fehlentwicklung zu stoppen, eine Absage erteilt wird? Zum Kronzeugen herangezogen wird eine von der »Welt« in Auftrag gegebene Studie des Ifo-Instituts, dessen Präsident Hans-Werner Sinn von der »Bild« zum »klügsten deutschen Ökonomen« geadelt worden ist.

Neben der Schaffung von Mindestlöhnen muss die Politik die Regelungen zum Arbeitslosengeld II grundlegend korrigieren. Denn es ist die Hartz-IV-Knute, mit der unverschuldet Arbeitslose in den perspektivlosen Niedriglohnsektor gezwungen werden. Während sich das Fordern auf die Annahme eines Jobs weit unter den qualifikatorischen Anforderungen konzentriert, fehlt es an der Förderung durch Qualifikation. Die Forderung nach altersbezogener Verlängerung des Arbeitslosengeldes I ist sicher richtig. Wenn sich jedoch ansonsten nichts ändert, reduziert sich diese Politik auf Symbolik gegenüber dem Protest gegen wachsende Ungerechtigkeit. Für alle Arbeitslosen ist es unabhängig vom Alter entscheidend, den Fallbeileffekt von Hartz IV zu beseitigen. Die Agenda 2010 muss sozial verträglich und für die Betroffenen perspektivisch reformiert werden.

Immer freitags: In der ND-Wirtschaftskolumne erläutern der Philosoph Robert Kurz, der Ökonom Harry Nick, die Wirtschaftsexpertin Christa Luft und der Wissenschaftler Rudolf Hickel Hintergründe aktueller Vorgänge.