nd-aktuell.de / 17.04.2024 / Kultur / Seite 1

»Ich bin ich und Salazar kann mich mal«

Wie spannend ist das normale Leben im heutigen Portugal? Dulce Maria Cardosos interessanter Roman »Eliete«

Fokke Joel
Portugal, ganz modern und normal: Blick über die »Vasco de Gama«-Brücke in Lissabon
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Wie erzählt man vom »normalen« Leben? Wie sorgt man dafür, dass der Leser einen Roman, dessen Geschichte in ihrer Normalität, ja Banalität auch die seine sein könnte, weiterliest und nicht gelangweilt zur Seite legt? »Ich bin ich und Salazar[1] kann mich mal«, heißt es zu Beginn des Romans »Eliete. Das normale Leben« von Dulce Maria Cardoso. »Ein Diktator regiert Portugal fast ein halbes Jahrhundert lang, fast weitere fünfzig Jahre vergehen seit seinem Tod, und dann taucht er in meinem Leben auf. Plötzlich war es so, als wäre er schon immer hier gewesen und hätte sich um alles gekümmert. Das konnte ich nicht zulassen.«

Doch dann verschwindet Salazar und taucht erst später wieder auf. Der Leser aber wird unwillkürlich weiter in das auch im Titel angekündigte »normale« Leben von Cardosos Erzählerin Eliete hineingezogen. Mit ihrem Mann Jorge, einem Computerspezialisten, und ihren zwei Töchtern lebt sie in der Nähe von Lissabon. Die Töchter sind im Teenageralter und gehen noch zur Schule. Sie selbst arbeitet in einem Immobilienunternehmen. Von außen gesehen scheint alles in bester Ordnung zu sein.

Doch Jorge interessiert sich nicht mehr für Eliete. Zwar schlafen sie noch zusammen, aber mehr aus Gewohnheit, denn aus Leidenschaft. Sie leidet unter der fehlenden Aufmerksamkeit. Auch ihre Töchter nabeln sich immer mehr von ihr ab, wollen immer weniger mit ihr zu tun haben. Dass sie sich bei Tinder anmeldet, hat dann weniger mit dem anonymen Sex zu tun, den die App vermittelt, sondern mehr mit der Mühe, die sich die Männer bei den Treffen in einem Motel für sie machen. Doch dann zieht ihre Großmutter, die wegen ihrer Demenz übergangsweise bei Eliete gewohnt hat, in ein kleines Altenheim und Duarte, der Sohn der Besitzer des Heims, verliebt sich in sie.

Eliete ist eine Frau in der Krise. In Rückblenden erfährt der Leser von ihrer Kindheit, in der sie mit ihrer Mutter in beengten Verhältnisse bei ihrer Großmutter aufgewachsen ist. Ihr Vater war früh bei einem Autounfall gestorben. Inzwischen hat die Mutter eine eigene Wohnung, aber Eliete meidet sie, weil sie alles enthält, »was ich nicht sein wollte, und was ich ironischerweise doch geworden war«. Durch genaue Beobachtungen und intelligente Kommentare ihrer Erzählerin macht Cardoso das »normale« Leben Elietes interessant. Der nüchterne Blick, den ihre Erzählerin auf ihre Mitmenschen und sich selbst wirft, ist nie ganz ohne Empathie und vermeidet Klischees und platte Anklagen. Die Macht der Männer und der Vergangenheit ist dabei präsent, aber ohne dass sich Eliete über den eigenen Anteil an ihrer Misere täuschen würde.

Es ist die leerstehende Wohnung ihrer Großmutter, in der sich Eliete und Duarte heimlich treffen. Selbst ihrer besten Freundin Milena erzählt sie davon nichts. Milena ist eine gut aussehende, erfolgreiche Anwältin in Lissabon und lebt allein. Die Männer, mit denen sie zusammen ist, verschwinden immer wieder nach einiger Zeit aus ihrem Leben. Eliete beneidet sie um ihren Mut und ihre Zielstrebigkeit. Aber wenn sie ihr von Tinder und Duarte erzählen würde, hätte sie »den einzigen Vorteil, den ich gegenüber der kämpfenden und siegenden Milena hatte«, verloren, nämlich ihre nach außen hin intakt wirkende Familie: »Wenn ich nicht mindestens einen Vorteil ihr gegenüber bewahrte, bedeutete das, dass ich bei allem versagt hatte.«

Dulce Maria Cardoso gelingt es so, das »normale Leben« einer Frau im heutigen Portugal spannend und interessant zu schildern. Es ist ein Roman, der individuelle Probleme erzählerisch auf eine allgemeine Ebene hebt und dadurch für jeden interessant und spannend macht. Ein Roman, der Widersprüche nicht auflöst, sondern stehen lässt, sodass man sich selbst ein Urteil bilden kann. Am Ende dann taucht Salazar, der portugiesische Diktator, wieder auf, jenseits des Klischees der Macht und des Bösen. Man ist nicht nur deshalb gespannt auf die Fortsetzung von Elietes Geschichte, die Cardoso auf der letzten Seite ankündigt.

Dulce Maria Cardoso: Das normale Leben. A. d. Portug. v. Steven Uhly,‎ Secession-Verlag, 280 S., geb., 24 €.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1155065.otelo-saraiva-de-carvalho-utopischer-ueberschuss.html?sstr=salazar