Wo sind die Barbaren?

Berliner Ensemble: »Der Gott des Gemetzels« von Yasmina Reza

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Verachtung ist das Thema bei Yasmina Reza. Die Wiedergeburt des Ichs auf dem Grunde des Weltekels. Neoexistentialismus-Attitüden? Sarah Kane, die sich jung das Leben nahm, machte aus ihrem Widerwillen gegen eine Ordnung, die lügt, ohne noch darum zu wissen, schreiende Bühnenexzesse. Das Publikum wurde behandelt, als wäre es nicht vorhanden. Auf solch feindselige Konsequenzmacherei verfiele die Reza nie. Publikumsverachtung? Nein, sie sucht immer das Publikum als Komplizen, will gefallen mit ausgefeilter Rhetorik. Manche nennen sie eine Mode-Autorin, ihren Tiefsinn geborgt.

Vor der attraktiven Französin und ihren Salonplaudereien der anderen Art ist keine Provinzbühne sicher. In »Kunst« oder »Drei Mal Leben« hat sie wahrscheinlich sämtliche Fragen der abendländischen Philosophie behandelt, man kommt sich dann vor wie auf einer Stehparty, wo jeder angetrunkene Gast beginnt, seine Sicht der Entstehung der Welt darzulegen.

Die Reza ermuntert alle zu reden, statt zu schweigen. Das kann man ihr vorwerfen. Aber die Rede hat einen bösen Hintersinn. Man redet sich zu Tode. Eine Autorin für Frauen? Nein, das Bild, das sie von ihren Geschlechtsgenossinnen hat, ist das Gegenteil von werbend. »Der Gott des Gemetzels« (in einer Co-Produktion mit dem Schauspielhaus Zürich) fragt mit Nietzsche danach, wo die Barbaren des 20. Jahrhundert sind.

Jürgen Gosch legt in seinem Regie-Alterswerk gerade eine neue Herbheit (und Härte!) an den Tag. Auf den ersten Blick passt dieser ebenso scheue wie spröde Regisseur gar nicht zur charmant-sprudelnden Französin. Mit Gosch steht ein Asket vor dem barocken Palast, den Reza aus Worten baut – und sucht die verborgene Einzelzelle, in die kein Ton dringt.

Plötzlich wird das Ambiente von »Schöner Wohnen« zur Mördergrube. Die in den Alltag eingewanderte Dämonie unseres trügerischen Selbstbildes bricht hervor. So verliert sich unter dem Mikroskop seiner Stückansicht das opulent Ausschwingende, das die Reza so nahe an den Boulevard bringt.

Mittelstandsbürgerdramen sind als solche nicht mehr kenntlich. Die meisten Wörter, mit denen man sich sonst beschimpft, sind dem um politisch-moralische Korrektheit bemühten linksalternativen Bürger ohnehin verboten, und wenn jemand doch mal zuschlägt, muss er den Rest seiner Tage in der Therapie darüber reden. Der wahre Schecken liegt längst nicht mehr da, wo ihn eine durchtherapierte Gesellschaft vermutet.

Zwei Ehepaare treffen sich, um sich »auszusprechen«. Der Sohn des einen Paares hat dem Sohn des anderen Paares zwei Zähne ausgeschlagen – und will nicht darüber sprechen. Dafür reden die Eltern mit der geborgten Besorgtheit um so mehr. Sandkastenspiele der Konfliktbereinigung, die den Hang besitzt, sich zu institutionalisieren. Man gibt sich versöhnlich, ohne zuvor richtig wütend gewesen zu sein. So etwas ruiniert die Nerven, macht hysterisch. Rousseau hat es in seinem Gesellschaftsvertrag bereits gewusst: Die Verträge sind schuld. Der erste Mensch, der sich von einem anderen zu etwas überreden ließ, verlor seine Freiheit: nein schlimmer, er verriet sie.

Mit Frauen hat Yasmin Reza wenig im Sinn, Frauen sind eine fatale Avantgarde in dieser Gesellschaft, ihre moralische Vorhut, mehr noch: eine kommunikative Plage. Dass es einen Terror der guten Absichten gibt, hat die Geschichte des Sozialismus hinlänglich bewiesen. Aber die Reza zeigt hier, es gibt einen Terror des Sublimen, des Kultivierten.

Der Mythos des restlos Zivilisierten wird hier zu völligen Selbstfesselung. Aufklärung, das meinte einst anderes mit dem Aufbruch aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit. So sehen wir nun lauter selbstverschuldet Unmündige, Eingesperrte, denen übel wird, wenn sie daran denken, wie sie leben. Konstantin Wecker hat in einem seiner Lieder von der Angst, sich auf eine Frau zu legen, geschrieben. Denn: Er könnte sie ja damit unterdrücken. Es ist dies eine Kulturgeschichte der Zügelung.

Nicht nur der dressierte Mann, auch die Frau demonstriert ihr Frausein: fortschrittlich, feminstisch, ökologisch, alternativ. In »Der Gott des Gemetzels« blickten wir in die Schatten die diese Dauerdemonstration wirft: Frustration, Lustlosigkeit, latente Aggressionen.

Früher, in ideologischen Zeiten, nannte man dieses Phänomen: Selbstentfremdung. Heute wird einem nur dezent übel. So wie Annette (eine Märtyrerin auf der Streckbank der Konventionen: Corinna Kirchhoff) sich plötzlich übergeben muss, mitten im Konfliktlösungsgeplauder um ihre prügelnden Jungen. Mitten über Veroniques Kokoschka-Bildbände. Da bricht nun auch in dieser das Tier hervor. Die »Frigidisierung« (Gottfried Benn) des modernen Menschen, mit »Höhensonne im Herzen« und der Rente vor Augen, sie ist noch nicht abgeschlossen. Noch gibt es versprengte Vitalitätskeime.

Dörte Lyssewski ist hinreißend in ihrer Mediatoren-Rhetorik, die auf einer Welle von nicht immer zu zügelnder Aggression schwimmt. All die psychosozialen Fertigbausteine unseres Komfortdaseins, das uns zuviel Zeit lässt, uns selbst und die Welt zu kommentieren! All die ungespielten Dramen, die von den Haushaltsgeräten (ein nerviger Fön!), an die wir unsere Lebensführung delegiert haben, praktischerweise gleich mit übernommen werden – Gosch setzt sie mit karger Präzision auf einer fast leeren Bühne aus. Diese Bühne: ein modernes Floß der Medusa – und die Schiffbrüchigen versuchen mit der Fernbedienung in der Hand verzweifelt auf ein anderes Programm umzuschalten.

Zwei Vollkomfortehepaare, die sich hier und jetzt weder ertragen noch totschlagen können (obwohl sie das manchmal und sehr heimlich möchten). Verklagen vielleicht, das ja – aber das ist so unbefriedigend. Kleine Revolten in diesem Drama der uns demütigenden Lebens-Surrogate wirken wie Nachbeben des Menschseins. Alain (vollendet zynischer Anwalt eines Pharmakonzerns: Michael Maertens) schreit auf, als Annette sein Handy in der Blumenvase unter den extra eingekauften Tulpen ersäuft: »Mein ganzes Leben ist da drin!« Und Michel (stoisch abgepanzert: Thilo Nest) hat in der Nacht zuvor den Hamster der Kinder auf der Straße ausgesetzt. Jeder will schließlich seine Freiheit. Und wo bleiben die Barbaren? – Gosch und sein vier Schauspieler in Höchstform.

Nächste Vorstellung: 3. und 4. November.

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