»... und jeden Tag ist Krieg«

Der dritte Teil der Tagebücher von Einar Schleef, 1977 bis 1980

  • Ricarda Bethke
  • Lesedauer: 6 Min.

Er schaffte es mit seinen Inszenierungen bis in die Tagesnachrichten, das ist viele Jahre her, es heißt: Er war ein Genie. Verstanden wurde er noch zu wenig. Jetzt erscheinen von ihm Tagebücher über Tagebücher. Im Jahre 2000 sagte er am Telefon zu mir: »Das werden 5000 Seiten, die kriegst du dann.« Er ist tot. Eintragungen, Briefe, Amtsschreiben, Zeitungsausschnitte, Zeichnungen, dazu kommen Kommentare 1999, 2000, 2001, die alles nochmaliger Wahrheitsprüfung unterziehen. Tagebuch 1977 bis 1980.

Für die ersten drei Jahre im Westen brauchte er genau so viele Seiten wie für Tagebuch 2, für dreizehn Jahre davor. Und immer diese Form: das hohe Format, broschiert, leider der Titel nicht mehr in seiner eigenen heftigen Handschrift wie noch »Droge Faust Parsifal«, auf dem Rückdeckel damals: »Wieviel Droge braucht der Mensch?«.

Was passierte mit ihm beim Übertritt? Einsam, gegen äußere und innere Mauern anrennend, versuchte der Sprachbehinderte mit seinen Tagebüchern sich über sich selbst klar zu werden und sich verständlich zu machen. Seine Romane, Stücke , Essays, Tagebücher, das ist alles aus ein und derselben Abraumhalde, so wie die große Pyramide in Sangerhausen, seinem Zuhause, alles der gleiche Steinbruch, die einschneidenden Erlebnisse der Kindheit, die Briefe der Mutter, die Kulturkämpfe im Osten, die Irritation Wien, die Briefe an Gabi ins Gefängnis, ihre Ankunft im Westen.

Wer da was aufliest, der findet die Artefakte des geteilten deutschen Alltags, die Dreckklumpen des Versagens, die Goldkörnchen der Wahrheit über ost-westdeutsche Wirklichkeiten und die Kristalle der deutschen Sprache, die bei ihm von »unten« gewachsen sind. »Intelleller« nennt ihn das »Mädchen aus der Wilmersdorfer«, »Wufflewitsch« nennt er in russifizierter Zärtlichkeit seine Gabi. Das Tagebuch 3 enthält mehr als sonst seine Homosexualität. Er ist gerade 33 Jahre alt, emigriert, Gabi in der DDR gefangen »vom Feind«, unerreichbar. Er will auf sie warten. »Der Saft muss dir doch aus den Ohren raus kommen«, sagt das »Mädchen aus der Wilmersdorfer«. Seine Gespräche mit ihr (ohne je in der Horizontalen zu enden), umkreisen immer wieder das Problem, ob die Befreiung vom autoritären Staat zuerst auch eine sexuelle Befreiung ist. Der Getriebene und Unerlöste träumt. »Traum zu dritt im Bett, neben mir der Junge, außen das Mädchen«.

Schleef schläft am Anfang da, wo man ihn aufnimmt. Er schreibt aber über diese neuen Beziehungen, ob zu Männern oder zu Frauen, in der Küche, im Bett oder bei der Arbeit: »An die Seele, ans Herz, lass ich keinen ran, da das etwas ist, was ich hier überhaupt nicht sehe, nur Plastik«. Er sehnt sich leidenschaftlich und vergeblich nach Liebe, nach Flori Havemann und nach Gabriele.

Der Ausweg, die Beruhigung, die Hygiene ist oft die Onanie. Seine seismografische Empfindlichkeit wird zur Selbstfesselung, zu Sparzwängen bis zum kleinlichen Streit um ein fehlendes Händehandtuch in einer West-WG, wird zum beschämenden Kleinkrieg in Existenzkrämpfen. Der, mit dem er frühstücken will, ist fest angestellt, und die, mit der er schlafen will, hat Frühdienst in einer Klinik. »Festangestellt« oder nicht, das wird zur unüberwindbaren Verständigungsschranke. Und auch geistig gibt es da kein Verstehen. »Mir wird klar, obwohl ich jetzt mit Leuten sprechen kann, verstehen sie mich nicht. Ich benutze ein anderes Vokabular.« Von seinen beiden Kindern im Osten steht allerhand im Tagebuch 3. Er lebte schon lange ohne sie, aber vom Wachturm an der Mauer aus könnte er sie sehn, Prenzlauer Berg. Umsonst warten sie auf Briefe von ihm.

Was seine Freundin betrifft, liefert das Tagebuch 3 die größten Amplituden einer Liebesgeschichte. Zärtlichkeit, überströmende Sehnsucht und Fürsorge beherrschen ihn, während sie gefangen ist. Als sie für ihn da ist, scheint sie fremd, von der Haftzeit zerstört. Rehaugen wurden zu wässrigen Augen, alles scheitert zuerst einmal schmerzhaft. Nichts genügt den gegenseitigen Erwartungen. Er bewacht sie und vertreibt sie, – hau ab und komm essen – in einem.

»Ich schreibe mein Tagebuch ab, und jeden Tag ist Krieg.« Er liest im Westen Zeitung, Mordfälle, obskure Anzeigen und »Deutscher Herbst«. Die alte Freundin Ulrike arbeitet auch in so etwas wie »Untergrund«. Jeden Tag ist Krieg, auch mit der Liebsten. Sie reist nach Südafrika zu Tante Daisy, und schreit durchs Telefon: »… die Farm meiner Großeltern, eine Baracke …, sollten wir hin, wenn Krieg ist.« Das Intime wird groß, das Historische banal. Wobei das Konkrete, welche radikalen Linken er kannte, oder wen er als Stasiverdächtigen im Kuhdamm-Eck sah, in Vermutungen stecken bleibt.

1978 schreibt er »Gertrud«, sein erstes großes Buch bei Suhrkamp. Eine gestiegene künstlerische Entschlossenheit und Ausdauer paart sich mit einer noch gewachsenen, aber selbst erkannten persönlichen Feigheit, die er bekämpfen möchte. »Was ich im Osten nicht tat, vor dem mir das System Angst machte, will ich hier, will das Experiment, will an meiner Feigheit scheitern.« So die Kommentare. Im Tagebuch 3 finden sich auch erstaunliche Urteile darüber, wer »die Einheit machte«. Was für Boris Groys die Auswirkung dialektischen Denkens der Funktionäre ist, die Aufgabe des »Experimentes«, das ist für den Künstler Schleef Verrat. »... man kann es auch knapper ausdrücken, der DDR Bonze traute dem DDR Arbeiter nicht zu, dass er was auf dem Kasten hatte« oder es »himmelten die Ostbonzen die Parteikaste des Westens an. Beide Parteikasten verrieten das Volk der DDR«. In mir klingt unlöschbar sein Chor aus der Inszenierung »Das verratenen Volk« nach: »... Und als er zur Wand ging …«.

Vom Verrat nimmt er sich selber nicht aus. Er ahnte das Ende der DDR voraus, in seinem Stück: » Berlin – Ein Meer des Friedens«. Das Tagebuch 3 ist voll von der Idee: »Nie mehr zurück in den Osten« und voll von der sehnsüchtigen Erinnerung an die Landschaft, die Menschen im Osten. Deshalb ruft er 1978 aus Westberlin seinen Freund Lothar Trolle an und lässt sich beschimpfen, erinnert an einen »humanistischen Auftrag der Kunst«, dem er dienen wollte und um den man ihn betrogen hatte. Er denkt an Wera Herzberg zurück, zu deren Fenstern er damals hinaufgesehen hatte, beruhigt: Licht, sie ist da.

Der sich selber abhäutende Marsyas Schleef, ein sprachgewaltiger Stotterer, ein gegen die Grenzen seines Körpers, seines Landes, seiner Klasse, seiner Erziehung anrennendes mitteldeutsches Mittelstandskind. Ein Deutscher, der mit allen seinen Sinnen alles in seiner Kunst verarbeitete – DDR, Kultur und Unkultur, Unfall und Krankheit, Reste vom proletarischen roten Mansfeld und von Naziideologie, die permanente Revolution an der Reibefläche der Systeme und den profanen Plaste- Westen, bevorzugt und ausgegrenzt, sehr vereinsamt und sehr geliebt: »Meine Mutter torkelt durch die Goldene Aue«, was für ein Satz!

Einar Schleef, Tagebuch von 1977 bis 1980 – Wien, Frankfurt (Main), Westberlin, herausgegeben von W, Mennighaus, S. Janssen und J. Windrich, mit zahlr. Abbildungen, Suhrkamp Verlag Frankfurt (Main), 30 EUR.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal