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  • China - Land unter Spannung

Der Hukou entscheidet über die Chancen

Chinas Bevölkerung ist in privilegierte Städter und arme Landbevölkerung gespalten / Serie Teil 4

  • Anna Guhl, Peking
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Boom in Chinas Großstädten ist nicht zuletzt mit dem sozialen Rückstand auf dem Land erkauft. Ein wichtiger Schritt zur Überwindung der Kluft könnte die Einführung eines einheitlichen Meldesystems sein.

Li Gang kam vor zehn Jahren mit seinem Sohn nach Peking. Seither hat er jeden Job angenommen, Tag und Nacht geschuftet und sich nicht geschont. Er wollte sich und seiner Familie das Auskommen sichern. Weder den Platz des Himmlischen Friedens noch den Sommerpalast hat er gesehen. Er ist ein Fremder in der großen Stadt geblieben. Richtig heimisch fühlt er sich weiterhin nur in seinem Dorf. Da will er auch wieder hin.

Wanderarbeitern aus entlegenen Dörfern Chinas, wie den beiden Männern aus der Familie Li, verdankt das Land den Wirtschaftsboom. Sie übernehmen die körperlich schwersten und schmutzigsten Arbeiten, kennen weder feste Arbeitszeiten noch Wochenenden und Feiertage, essen und schlafen neben ihren Arbeitsplätzen und begnügen sich mit wenig Geld für zum Teil gefährliche Arbeiten.

Zwar zerfiel mit Reform und Öffnung die traditionelle Klassenstruktur Chinas und neue soziale Schichten und Gruppen entstanden. Doch die unterschiedliche polizeiliche Anmeldung, kurz Hukou-System genannt, die die chinesische Gesellschaft seit den 50er Jahren in Stadt- und Landbürger spaltet, ist geblieben. Bis heute entscheidet der Hukou der Mutter, ob ihr Kind später zu den privilegierten Städtern oder zu den weiterhin oft rechtlosen Dorfbewohner zählt. Denn mit dem Hukou sind viele soziale Vergünstigungen verbunden: der Abschluss einer Kranken- und Rentenversicherung, bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, der unbürokratische Zugang zu Wohneigentum. Gerade deshalb tut sich die chinesische Führung bisher schwer mit der Einführung eines einheitlichen Meldewesens für alle Bürger.

Nach jüngsten Umfragen sehen auch viele Städter die Reformierung des Hukou-Systems als überfällig an. Dass bis heute über die Hälfte der chinesischen Bevölkerung trotz zweistelliger Wachstumsraten in der Wirtschaft wegen ihres Geburtsortes von sozialen Leistungen einfach ausgesperrt wird, halten viele für nicht mehr tragbar. Soziale Gerechtigkeit und Gleichheit könne nur über die rechtliche Gleichstellung erfolgen.

Sicher, es gibt immer wieder lokale Vorstöße in Sachen Hukou-Reform, zumeist in den boomenden Wirtschaftsregionen an der Küste. Hier werden die mit dem Hukou verbundenen Restriktionen immer öfter zum Hemmnis für die Wirtschaftsentwicklung. Doch eine völlige Öffnung des Arbeitsmarktes und freien Zuzug in die Städte will sich die Führung angesichts der Beschäftigungslage nicht leisten.

Offiziell wird die Zahl der Arbeitslosen in den Städten mit rund acht Millionen angegeben, doch inoffizielle Untersuchungen gehen von einer deutlich höheren Zahl aus. Jährlich kommen rund zehn Millionen junge Menschen ins erwerbsfähige Alter und drängen ebenfalls auf den Arbeitsmarkt. Gut 24 Millionen neue Arbeitsplätze werden jährlich gebraucht. Doch nur zehn Millionen kann die Wirtschaft bereitstellen. Waren es in den 80er Jahren noch 2,5 Millionen Arbeitsplätze, die pro ein Prozent Wachstum geschaffen werden konnten, sind es heute nur wenige Hunderttausend. Und der Druck auf den Arbeitsmarkt nimmt zu. Galt noch vor wenigen Jahren der Universitätsabschluss als sichere Bank für einen gut bezahlten Job, muss sich heute bereits so mancher Absolvent glücklich schätzen, wenn er ein ähnliches Einkommen angeboten bekommt wie der junge Wanderarbeiter Li auf dem Bau. Über eine Million Hochschulabsolventen sind in den Städten auf Arbeitssuche, knapp fünf Millionen kommen jährlich dazu.

Da aber der erwirtschaftete Reichtum weiterhin vor allem in den Aufbau und die Modernisierung der Städte fließt, werden auch in den nächsten Jahren die Migrantenströme vom Land nicht abreißen. Erste Schätzungen sprechen von einem Anstieg auf 300 bis 400 Millionen. Derzeit sollen rund 120 Millionen Wanderarbeiter in den Großstädten arbeiten. Hier wachsen die Gehälter schneller; die Unternehmen müssen sich zunehmend dem öffentlichen Druck beugen und Sozialversicherungen für ihre Beschäftigten abschließen. Zwar sollen die Einkommen auf dem Land nach jüngsten Berichten des Staatlichen Statistikamtes erstmals seit zehn Jahren auch wieder zweistellig gestiegen sein, doch der Abstand zu den Durchschnittslöhnen in den Städten konnte trotzdem nicht verringert werden. Im Gegenteil: Inzwischen verdient ein Städter im Durchschnitt jährlich umgerechnet über 800 Euro mehr als sein Landsmann im kleinen Dorfbetrieb. Vor fünf Jahren waren es 400 Euro.

China wird auch in Zukunft ein Land mit hohen Einkommensunterschieden und großer Bevölkerung bleiben. Um acht bis zehn Millionen Menschen wird sie in den nächsten 20 Jahren wachsen. Auch wenn nach chinesischen Angaben der seit Ende der 70er Jahre zum Teil recht drastisch durchgesetzten Geburtenplanungspolitik rund 400 Millionen Menschen weniger »zu verdanken« sind, wird China Mitte des Jahrhunderts 1,5 bis 1,6 Milliarden Menschen zählen. Und fast 30 Prozent der Chinesen werden dann über 60 Jahre sein – für die es, so wird von vielen Experten heute bereits befürchtet, weder eine vernünftige medizinische Absicherung noch Altersvorsorge geben wird.

Der nächste Teil der Serie erscheint am Donnerstag, dem 25. Oktober: Exportnation China

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