Am Eingang zum Thalia-Kino in Potsdam-Babelsberg werben Plakate unter anderem für die französischen Spielfilme »Die leisen und die großen Töne« und »Es liegt an dir, Chéri«. In Saal 2 läuft am Mittwochabend jedoch keine dieser beiden Komödien und auch kein anderer Streifen. Die Linke belegt den Saal für eine ernsthafte Angelegenheit, wenn auch hin und wieder gescherzt und gelacht wird: Nominiert wird die Ex-Landtagsabgeordnete Isabelle Vandré als Direktkandidatin im Bundestagswahlkreis 61. Zum Wahlkreis gehören neben Potsdam auch Städte und Gemeinden wie Kleinmachnow, Teltow, Stahnsdorf und Schwielowsee.
Das schöne, aber für so eine Versammlung nicht ideale Kino verlangt der Organisation und den Parteimitgliedern einiges ab. Von rund 700 Genossen im Wahlkreis sind 80 erschienen – und sie sollen sitzen bleiben bei der Ausgabe der Stimmzettel. Mitstreiter gehen beim Austeilen durch die Sitzreihen wie Kinobesucher, die sich verspätet haben und nach Vorstellungsbeginn noch irgendwie vorbeimüssen zu ihrem Platz, was sich dann meist nicht so einfach gestaltet.
Die Sache ist kein nervenaufreibender Krimi und kein spannender Abenteuerfilm. Isabelle Vandré, die bis zur Landtagswahl im September zehn Jahre lang der brandenburgischen Linksfraktion angehörte[1], wird erwartungsgemäß nominiert – mit 77 zu 3 Stimmen. Sie ist die einzige Bewerberin.
Ob die Bundestagswahl am 23. Februar nach der mit knapp drei Prozent landesweit vergeigten Landtagswahl die nächste Tragödie wird, ist noch nicht absehbar, aber möglich. Vandré zeigt sich dennoch zuversichtlich, dass es diesmal gelingen könnte, die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen. Eine Rettung wären andernfalls, wie schon 2021, drei gewonnene Wahlkreise. In Berlin, Leipzig und Erfurt macht sich die Partei Hoffnungen, doch in Potsdam scheint ein Sieg völlig ausgeschlossen zu sein.
»Im Übrigen sollten wir uns angewöhnen, nicht vom Kanzlerwahlkreis, sondern vom ehemaligen Wahlkreis von Karl Liebknecht zu sprechen.«
Isabelle Vandré
Dennoch genießt der Wahlkreis aus anderen Gründen Aufmerksamkeit. Hier kandidieren Kanzler Olaf Scholz (SPD)[2] und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne)[3] – und es spricht einiges dafür, dass die SPD am 23. Februar die Bundestagswahl insgesamt verliert, aber den Potsdamer Wahlkreis gewinnt. Scholz und Baerbock wohnen in der Stadt und sind dort bereits bei der Wahl 2021 gegeneinander angetreten. Isabelle Vandré, mittlerweile Linksfraktionschefin in der Stadtverordnetenversammlung, ist kommunalpolitisch verankert und will den beiden »in diesem Wahlkampf ganz genau vor Augen führen, worin sie in den letzten Jahren versagt haben, und ihnen zeigen: Ihr habt keine Ahnung von diesem Wahlkreis.« Die 35-Jährige fügt hinzu: »Im Übrigen sollten wir uns angewöhnen, nicht vom Kanzlerwahlkreis, sondern vom ehemaligen Wahlkreis von Karl Liebknecht zu sprechen.«
Karl Liebknecht, der Ende Dezember 1918, Anfang Januar 1919 zu den Gründern der KPD gehörte, hatte bei der Reichstagswahl 1912 noch als Sozialdemokrat sensationell den Kaiserwahlkreis gewonnen – damals so bezeichnet, weil Potsdam die bevorzugte Residenz der Hohenzollern war und Kaiser Wilhelm II. im Neuen Palais im weltberühmten Schlosspark Sanssouci lebte. 1914, als die SPD angesichts des Ersten Weltkriegs einen die Arbeiter verratenden Burgfrieden hielt und dem Kaiser die Kriegskredite bewilligte, stimmte Liebknecht mutig gegen die Linie seiner Fraktion.
Das mag eine uralte Geschichte aus der Stummfilmzeit sein. Doch in Babelsberg ist die Erinnerung an Liebknecht lebendig. Hier steht das Karl-Liebknecht-Stadion, von Fußballfans und Anwohnern liebevoll »Karli« genannt. Hier trägt der SV Babelsberg 03 seine Heimspiele aus. Der in der linksalternativen Szene gefeierte Fußballverein ist so etwas wie der FC St. Pauli von Ostdeutschland, und Isabelle Vandré sitzt im Vereinsvorstand.
Eine Frage wird der 35-Jährigen am Mittwochabend nach ihrer Vorstellungsrede gestellt. Ein Genosse will wissen, ob eine Mietpreisbremse gegen den Mietenwahnsinn ausreiche[4] oder ob nicht vielmehr die Eigentumsfrage gestellt werden müsste. Vandré greift das Stichwort dankbar auf. Eine Mietpreisbremse könne das Problem nur übergangsweise einfrieren und nicht an der Wurzel lösen, bestätigt sie. Der Volksentscheid »Deutsche Wohnen & Co enteignen« habe 2021 im benachbarten Berlin gezeigt, dass eine Mehrheit der Bevölkerung über die Vergesellschaftung von großen Wohnungsbeständen »deutlich radikaler« denke[5], als man vorher glaubte.
Auch die Linke-Kreisvorsitzende Iris Burdinski erwähnt im Thalia-Kino Erstaunliches: dass nun auch die Umweltorganisation Greenpeace für die Wiedereinführung der 1997 in der Bundesrepublik ausgesetzten Vermögensteuer eintrete.
Solche Vorstellungen der Linken werden also in der Gesellschaft durchaus breit geteilt – nur gewählt wird die Partei dennoch immer weniger. Die notwendige Analyse der Ursachen für die schwere Niederlage bei der Landtagswahl möchte Bundestagskandidatin Vandré nun aber bis zum 23. Februar aufschieben. Denn: »Wir haben eine Mission, und die lautet: Die Linke über die Fünf-Prozent-Hürde und damit in den Deutschen Bundestag bringen, um die Partei danach neu aufzubauen und auf festere Füßen zu stellen.«
Nach menschlichem Ermessen kann die Kandidatin den Potsdamer Wahlkreis genauso wenig gewinnen, wie das vor ihr in drei Versuchen der Ex-Bundestagsabgeordnete Norbert Müller (Linke) vermochte. Auch dem einst als roter Rolf bekannten Bundestagsabgeordneten Rolf Kutzmutz ist dieses Kunststück nie gelungen, obwohl er knapp dran war. Doch selbst bei günstigem Trend in den besten Zeiten der Linken, als der Landesverband 2009 vier Bundestagswahlkreise gewinnen konnte, lagen diese weit weg in Ostbrandenburg.
Am Donnerstagabend will sich Isabelle Vandré in Luckenwalde um Platz eins auf der Landesliste der Brandenburger Linken bemühen. Der Landesvorstand hatte sich mehrheitlich für den Bundestagsabgeordneten Christian Görke als Spitzenkandidat ausgesprochen. Der hatte diese Position bereits 2021 eingenommen. Doch Vandré will an ihrer Bewerbung festhalten, wie sie im Thalia-Kino ankündigte.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1187665.bundestagswahl-nominiert-wie-im-film.html