Dieser Tage war ich für das »nd« zu einer Tagung über Propaganda und Ideologie in Lüneburg, um über den Aufstieg des Faschismus in den 1930er Jahren zu diskutieren. In den Texten zur Vorbereitung traf ich auf eine schöne Stelle bei dem Geschichtsphilosophen Siegfried Kracauer. Er erklärte die Anfälligkeit der deutschen Mittelschichten für den Nationalsozialismus damit, dass diese Ende der 1920er Jahre durch die Krise zwar »proletarisiert« worden, aber zugleich »in bürgerlichen Traditionen befangen« gewesen seien. Die von Abstiegsängsten geplagten Bürgerlichen hätten sich nach einer Veränderung gesehnt, die die Verhältnisse nicht infrage stellen sollte. »Nur eine Scheinlösung ist möglich«, resümierte Kracauer das Dilemma. »Der Fascismus ist eine Scheinlösung.«
Heute, da so viele Linke verzweifelt nach Gründen suchen, warum nicht sie, sondern die AfD von den vielen Krisen der Gegenwart profitiert, ist das vielleicht ein hübscher Kalenderspruch: Die rechtsextreme Revolution ist erfolgreich, weil sie nichts verändern will. Deswegen auch das ganze sinnentleerte Gestammel, Genöle und Gegröle der Rechten: Wer nichts anderes will als die Verschärfung des Bestehenden, muss bei Gewalt und Lautstärke zulegen.
Im Anschluss an die Seminarsitzungen drehte ich Runden durch die Altstadt. Vom norddeutschen Waschküchenwetter einmal abgesehen ist Lüneburg ein wirklich hübsch anzusehendes Fleckchen. Beeindruckend sind vor allem die 1372 vollendete fünfschiffige Hallenkirche St. Johannis, ein Prunkstück norddeutscher Backsteingotik, sowie die nahgelegene Klosterkirche St. Michaelis. Auf der Fremdenverkehrs-Webseite erfahre ich, dass sich Lüneburg seine Sakralpracht mit einem pfiffigen Geschäftsmodell finanzierte: dem »Stapelrecht«.
Lüneburg zwang reisende Kaufleute, in den Stadtmauern Station zu machen und ihre Waren zum Verkauf anzubieten. Damit sich auch wirklich niemand um den Marktplatz herumdrücken konnte, wurde 1397 sogar ein Grabensystem westlich der Stadt errichtet. Das Gegenteil einer Umgehungsstraße gewissermaßen: Lüneburg unternahm alles, um nicht umfahren zu werden.
Dass man superreich werden kann, indem man andere dazu zwingt, auf dem eigenen Marktplatz hängen zu bleiben, kennen wir alle von Jeff Bezos. Der Eigentümer des Onlineversandhandels Amazon hat sein auf 230 Milliarden US-Dollar geschätztes Vermögen dadurch gemacht, dass er andere zwingt, auf seinem Marktplatz zu handeln, und dafür Prozente kassiert.
So betrachtet ist der unsympathische Plattform-Konzern nichts anderes als ein ins Netz hochgeladenes Lüneburg – allerdings weniger hübsch anzusehen. Auch das könnte vielleicht als Kalenderspruch durchgehen.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188335.sieben-tage-sieben-naechte-durchgehungsstrasse.html