Maßregelvollzug ist noch immer für viele hierzulande kein Begriff, selbst wenn die Einrichtungen hin und wieder Negativschlagzeilen machen. Manche denken, das sei eine Art Knast – es handelt sich jedoch um Krankenhäuser. Eine Unterbringung wird von der Justiz angeordnet, wenn schuldunfähige Menschen eine Straftat begangen haben. Ursache für die Schuldunfähigkeit kann eine psychische Erkrankung, eine Intelligenzminderung oder eine Suchterkrankung sein. Auch das äußere Erscheinungsbild der Einrichtungen mit starken baulichen Sicherheitsmaßnahmen ist eher furchteinflößend. Was in den Mauern passiert, ist wenig bekannt. Aber hinter ihnen leben immerhin bundesweit etwa 10 000 Menschen auf Dauer.
In der Praxis haben die Einrichtungen bundesweit mit schwerwiegenden Problemen zu kämpfen, wie eine Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in der letzten Woche bestätigte. »Überbelegt und unterversorgt« war der Beitrag aus dem Fachverband überschrieben.
Nach psychiatrischen Standards sollten die Stationen nicht mehr als 20 Betten haben. Das scheint schon nach der aktuellsten Umfrage, die der Psychiatrie-Verband bei den Einrichtungen 2022 durchführen ließ, nur selten haltbar. Fast überall in den bundesweit 78 Krankenhäusern ist von Überbelegung die Rede, sogar in Bezug auf Stationen, die bereits über 30 oder sogar 40 Betten vorhalten, wie Jutta Muysers berichtet. Die Psychiaterin vom DGPPN-Referat Forensische Psychiatrie ist seit vielen Jahren in einer solchen Klinik in Langenfeld in Nordrhein-Westfalen tätig.
Anhaltend hohe Zuweisungen führen dazu, dass auch Therapie- oder Isolationsräume mit Betten belegt werden. Ohnehin hat nur die Hälfte der Kliniken Einzelzimmer. Teils werden die Mehrbettzimmer mit Stockbetten ausgestattet, oder die Patienten erhalten nur Matratzen. Das ist oft nicht kurzfristig so, sondern ein Dauerzustand. Wobei die Unterbringung meist sehr lange dauert: Fast jeder Fünfte ist schon länger als zehn Jahre im Maßregelvollzug.
Die von den Fachärzten vor Ort als sinnvoll angesehenen Therapien sind in 60 Prozent der Einrichtungen nicht möglich.
Die Personalquoten, die fachlich vorgesehen sind, werden vermutlich nirgends eingehalten. Spezialisierte Pflegekräfte oder Fachärzte fehlen auch in der allgemeinen Psychiatrie bundesweit.[1] Übergriffe von Patienten auf das Personal sind häufig. Das Dilemma lässt sich oft nur durch Zwangsmaßnahmen[2] (vorübergehend) auflösen. Teils sind dafür richterliche Entscheidungen nötig. Die DGPPN-Umfrage zeigte aber, dass etwa die Dauerisolierung von Patienten in unterschiedlichem Maße Praxis ist. So kam es in vier Einrichtungen zu einer zweistelligen Zahl dieser Maßnahme, während sie in 20 Einrichtungen gar nicht erfolgte.
Die von den Fachärzten vor Ort als sinnvoll angesehenen Therapien sind in 60 Prozent der Einrichtungen nicht möglich. Es fehle entweder Geld oder Personal, wie es heißt. Zur Situation gehört auch, dass etwa ein Drittel der Patienten einen Migrationshintergrund hat, knapp unter zehn Prozent haben bei Aufnahme keine ausreichenden Deutschkenntnisse. Jedoch sind Übersetzungsdienste nicht in den Budgets vorgesehen.
Für Schlagzeilen hatte in letzter Zeit wiederholt das Krankenhaus Maßregelvollzug (KMV) in Berlin gesorgt, unter anderem, weil dort mehrere Patienten länger als einen Monat, in einem Fall sogar über sechs Jahre, in Isolation gehalten[3] wurden. Im Frühjahr 2024, hatte der Chefarzt Sven Reiners gekündigt, weil er die Zustände nicht mehr verantworten konnte. Dort gibt es Anfang des Monats eine neue ärztliche Leitung: Julia Krebs war zuvor Oberärztin im Berliner Justizvollzugskrankenhaus. Bei der Berliner Veranstaltung musste sie konstatieren, dass das KMV mit 622 Patienten bei 549 zugelassenen Betten weiter deutlich überbelegt ist. Insgesamt etwa 100 neue Plätze könnten durch einen neuen Standort in Lichtenrade und durch die Sanierung eines Hauses am Standort Reinickendorf frühestens im Herbst zur Verfügung stehen. Aber auch hierfür muss neues Personal gewonnen werden.
Aktuell sind die Arztstellen im Berliner KMV zu 56 Prozent, die Pflegestellen zu 76 Prozent besetzt. Der Arztmangel wird teils durch den Einsatz von Psychologinnen kompensiert. Grundsätzliche Verbesserungen müssen jedoch auch von der Politik mitgetragen werden, lässt Krebs durchblicken, die sich unter anderem wünscht, dass der Maßregelvollzug als gesamtstädtische Aufgabe verstanden werden müsse.
Dazu gehört, dass es für Menschen, die eigentlich entlassen werden könnten, geeignete Möglichkeiten der Nachsorge geben muss, darunter Wohngruppen, Heime oder Plätze im betreuten Wohnen. Aber diese sind ebenfalls rar. Genauso, wie es zu wenig ambulante Psychiater gibt.
Der Mangel an Therapien in den Häusern wird aber nicht absehbar dazu führen, dass viele Patienten entlassen werden können. Werden sie im Maßregelvollzug nur »verwahrt«, verbietet es sich eigentlich, von Krankenhäusern zu reden. Im Licht der Vorgaben der aktuellen Krankenhausreform, so Peter Bobbert von der Ärztekammer Berlin, müsste die Berliner Einrichtung geschlossen werden, weil sie grundsätzliche Leistungsanforderungen nicht erfüllt.
Die Bilanz der Veranstaltung ist also wenig ermutigend, sowohl für die Beschäftigten in den spezialisierten Kliniken als auch für die dort lebenden Patienten und ihre Angehörigen. Einheitliche gesetzliche Grundlagen für alle Bundesländer, möglicherweise auch eine Neuausrichtung des ganzen Bereichs, mehr Prävention – das sind einige der naheliegenden Schlussfolgerungen. Große Hoffnung, dass sich hier bald grundsätzlich etwas tun könnte, vermittelte in Berlin jedoch kaum jemand.