Wo die Uhren anders gehen

Gerta Stecher schrieb »Geschichten aus der Neuen Welt«

  • Fritz Rudolf Fries
  • Lesedauer: 3 Min.

Vorzustellen wäre, wie die Protagonisten berühmter lateinamerikanischer Romane ihre wunderbaren Welten verlassen, die Kostüme ablegen, die ihnen ihre Autoren angepasst haben, und aus den Buchseiten aussteigend zurückgehen in die Niederungen ihrer Herkunft. Die Trennung zwischen Fiktion und Realität wird dennoch kaum gelingen. Große Fabulierer etwa wie Gabriel García Márquez haben ihr journalistisches Handwerk immer wieder zur Grundlage ihrer Bücher gemacht. In Lateinamerika, »wo die Uhren anders gehen«, wie Gerta Stecher eine ihrer Reportagen nennt, ist eine illusionslose Existenz wohl kaum zu finden. Natürliche Eloquenz, indianische wie christliche Religionen tragen dazu bei, die Fantasie wie ein Lebenselixier zu nutzen. Sich zur Wehr setzen, und sei es im Traum von einer besseren Welt, die eigenen Grenzen zu überwinden.

Gerta Stechers »Wahre Geschichten aus der Neuen Welt«, in den letzten zwölf Jahren entstanden, sind das Ergebnis ihrer Reisen durch die alten Inka- und Maya-Reiche, mit ihren touristisch ausgebeuteten Ruinen in Macchu Picchu und Chan Chan. Sie besucht Chile im ersten Jahr nach dem Ende der Unidad Popular; sie besichtigt das Armenviertel in Trujillo im Norden Perus, entdeckt einen genialen Musiker, der von Caracas aus die Berliner Philharmonie erobert und beschreibt eine Urwaldmusik, die unsere Vorstellung von heiterer Folklore korrigiert. In La paz spricht sie mit einem bolivianischen Dienstmädchen über ihre Arbeit in einem wohlhabenden, »weißen« Haushalt. Gerta Stechers Arbeitsgeräte sind Mikrofon und Kamera. Das hat zu tun mit ihrer langjährigen Erfahrung als Rundfunkjournalistin und Fernseh-»Kamerafrau«. Davon profitieren die Arbeiten des Bandes, die als Hörbilder uns mitten hinein führen würden in die Schlaflosigkeit der großen Städte, ins Stimmengewirr der Märkte, in die Hupkonzerte der Autokarawanen. Wünschen würde ich mir, der Rundfunk nähme sich dieser Texte, dieser Partituren an.

Was die Texte glänzend vermitteln ist die Aufmerksamkeit der Reporterin, auf die Menschen aller Altersstufen zuzugehen, ihre Befangenheit zu zerstreuen und dabei, behutsam, die eigene Meinung einzubringen. Reizvoll die entdeckten Spuren deutscher Bergleute in Lateinamerika. »Wir fahren nach Amerika, und wer kommt mit« sangen deutsche Familien im neunzehnten Jahrhundert, bevor sie nach »Goldland« aufbrachen, ins El Dorado ungebrochener Hoffnung. Eine Geschichte der Rettung ist das Gespräch mit dem deutschen Emigranten Anselm Glücksmann.

Lateinamerika, ein Kontinent heute mehr den je im Aufbruch. In der Rückbesinnung auf die indianischen Kulturen werden die globalen Themen unserer Zeit angesprochen, die Bewahrung unserer von Ausbeutung und· Profitdenken bedrohten Welt. Für die Maya-Kultur »ist der Mensch nicht homo faber, sondern für sie ist der Mensch homo collaborateur mit der Welt, in der wir leben: Muttererde, Vatersonne, Muttermond.«

Der kundige Lateinamerikanist Hans-Otto Dill hat das informationsreiche Vorwort geschrieben, und so mischen sich in dem Band die Wissenschaften mit der traditionsreichen Neugier des Reporters. Wer nach Amerika fährt, sollte den Band griffbereit haben und als Reiseführer nutzen.

Gerta Stecher. Wahre Geschichten aus der Neuen Welt. Menschen aus dem Alltag Lateinamerikas. Mit einem Vorwort von Hans-Otto Dill. edition tranvia. Verlag Walter Frey. 192 S., brosch., 14,80 EUR.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal