Tote hängen im Zaun

Berliner Schaubühne: Falk Richters »Im Ausnahmezustand«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Ob alles in Ordnung sei, fragt die Liebe. Ob alles gut sei, fragt das Mitgefühl. Ob man sich Sorgen machen müsse, fragt der Familiensinn. Familiensinn, Mitgefühl, Liebe klingen wie Angestellte einer Firma, und diese Firma überwacht, Tag und Nacht ...

Ob alles in Ordnung sei, ob alles gut sei, ob man sich Sorgen machen müsse – so fragt also die Frau ihren Mann. Und der druckst. Nichts ist in Ordnung. Sie weiß es. Sie hat dem »Team« sogar gemeldet, was er nachts wirr im Traume redet, sie hat ihn im Dunklen draußen herumrennen sehen (oder träumte sie das selber nur?). Sie rechnet ihm die Prozentzahl der Witze vor, die er in letzter Zeit weniger gemacht hat – nachlassende Heiterkeit ist nachlassende Sozialkraft. Sie lag auch spionierend unterm Bett des Sohnes. Wer treibt hier welches Spiel? Woher kommt zum Beispiel die verbrannte Hundeleiche vorm Haus? Im Schnee. Wo es hier doch gar nicht schneit. Realität oder wieder nur Traum? Warum spielt man jetzt wieder den Ton des rauschenden Meeres in die Siedlung ein? Damit man keine Schüsse hört? Und hingen jüngst nicht wieder Leichen im Elektrozaun, in der Nähe des großen Tores, das immer geschlossen bleiben muss?

Nichts ist in Ordnung! Nichts ist gut! Man muss sich Sorgen machen! Die Frau bedrängt den Mann, als sei sie ein entsicherter Revolver. Der vorschießende Arm mit dem gestreckten Zeigefinger möchte ebenfalls Revolver sein. Waffe ist er auf jeden Fall. Der Mann wird ins Bibbern geraten. Eine Geiselnahme daheim.

Denn: Wenn das so weitergeht, wenn der Mann weiter so nachlässt in der Kundenbetreuung, dann müssen sie hier wieder raus, dann müssen sie wieder auf die andere Seite (des Daseins), wo die Räudigen leben, die Verzweifelten, die Staugefangenen, die Hungernden, die Nichtse, die verwirrten Alten, die Kinder mit ihrer Furcht vor dem Schulweg. Die Frau hat Angst. Angst, das ist hier die letzte, aber doch alles entscheidende Weltanschauung. Angst, alles zu verlieren. Der Mann fragt irgendwann zurück, was das eigentlich sei: alles. Da ist aus einem Gespräch schon ein Krieg geworden, ein Beben, ein erschöpftes Maskenreißen in den hart und leer gewordenen Gesichtern.

»Im Ausnahmezustand« heißt das neue Stück von Falk Richter, er hat es selbst an der Schaubühne am Lehniner Platz inszeniert, Bühne: Jan Pappelbaum. Es ist, als sei Richter an jenen Ort gegangen, den die Ausrufer in Botho Strauss’ Stück »Schändung« anpreisen: »Terra secura, exklusives Wohnen in absolut geschützter Lage! Erwerben Sie Anteile an der Stillen Stadt! Sie gehen nach Sonnenuntergang nicht mehr aus dem Haus? Sie hören aus der Nachbarschaft von Diebstahl, Notzucht und Entführung? Terra secura: eingezäunt und abgeschirmt, bewacht von eigener Garde. Keine Krüppel. Keine ansteckenden Krankheiten. Keine unterdurchschnittliche Intelligenz.«

Terra secura heißt hier Gated Community. Die geschlossene Gesellschaft der von realer Welt Befreiten. Festung Wohlstand. Mit sehr kollektiver Feier von Hochzeitstagen und Bonuspunkten fürs Surfen. Noch muss man dazu wegfahren. Noch. Aber ein Meer direkt vor den Häusern soll bald schon angelegt werden. Das Getto derer, die es »geschafft« haben. Doch die wahre Leistung muss jetzt erst vollbracht werden: fit bleiben, dranbleiben, eisern bleiben. Die Überwachungskameras zeigen nach innen.

Mann und Frau sitzen auf einer langgestreckten Couch. Sie ganz links, er ganz rechts. Wieder denke ich an einen Satz von Botho Strauss: »Ich bin der, sie ist die. Nie waren wir mein und dein. Aug in Aug sehen wir uns oft aus großer Ferne an.«

Bibiana Beglau: hochgestecktes Haar, so viel Strenge und Anspannung in den Zügen, wie es keine Weiblichkeit verträgt. Infiziert von Kontrollsucht. Von Unangreifbarkeitswünschen gehetzt. Geschlagen vom Ehrgeiz nach total entlasteter Existenz – es ist dies die bitterste, drückendste aller Lasten. Aus dem Rockbund zieht sie kleine Zettelchen mit den notierten Nachlässigkeiten ihres Mannes. Die Firma hat bei ihr nachgefragt. Die Leistungsquote stimmt nicht mehr. Aber auf die kommt es an. »Es gibt stapelweise Bewerbungen und bergeweise kompetente Menschen, es gab noch nie so viele kompetente Menschen wie heute, und die wollen alle hierher.« Auch Ehemänner kann man austauschen. Später wird der Sohn hereinkommen, an die Mutter gewandt: Was will der noch hier?!

Man kann der Beglau zusehen, wie sie sich aus einem Menschen in einen hysterischen Sicherheitsapparat verwandelt. Wenn sie liegt, lauert sie. Wo sie redend steht, gibt Besitzstand gleichsam peitschend Auskunft. Sie trägt einen großen grauen Gram im Gesicht – es versteint eben, wer in den Abgrund zwischen Seele und Komfort blickt. Selbst wenn sie sich behaglich-lasziv auf der Couchanlage streckt, ist da kein heißer Untergrund mehr im Begehren, sondern nur noch emanzipierter Controler-Sinn. Gedrillt auf die Selbstpflegeprogramme eines so krampfhaft wie kampfwütig verteidigten Wohlstandes. Den hier auch ein Kamin verkörpert – ach, nur ein Videoausschnitt an der Wand, den man wegzappen kann; her wieder mit den Ausleuchtungsbildern der Überwachungskamera.

Bruno Cathomas spielt den Mann. Dieser Schauspieler ist ein Virtuose des Opfertums. Schlafwandlerisch sicher balanciert er auf jenem schmalstem Grat, der eine trotzige Beharrung von flatternder Unsicherheit trennt. Cathomas schiebt Behäbigkeit vor sich her wie einen Schild, aber jeder Versuch der Panzerung endet in fleischweicher Auflösung. Kaum ein anderer Akteur wird so glaubhaft zur Kreatur; die wertfreie, fraglose Einfalt des tierisch weidwunden Blicks hat er zum Adel einer schonungslosen Menschendarstellung erhoben. Kürzest gesagt: Der Kerl, wo er heranklumpt, rührt zutiefst. Das schwere Kind. Der stutzige, störende Idiot an den Rändern der herumwirbelnden Weltversteher.

Hier gerät er ins Verhör der Frau, jede ihrer Fragen staucht ihn, jedes ihrer Worte verzwergt ihn ein Stück mehr; die sich steigernde Komik der Figur kommt aus der Folter namens Überforderung. Die in ihm lauter motorische Störungen auslöst. Die ihm das Glas in der Hand tausendscherbig bersten lässt. Überforderung, die ihn von innen aufzublasen scheint, so dass er gedunsen vibriert. Der Mensch als Behältnis – unter einem Hochdruck, der schier zerfetzt. Beglau und Cathomas: Zu zweit auf der Couch zu liegen, als gehöre man (noch) zusammen – das Bild gleicht dem Umarmungsversuch zweier erstarrer Toter.

Das Starke, Gespenstische an Richters Stück ist eine geradezu sciencefiktionale Übersteigerung, die bedrängend an Gegenwart denken lässt. Wir leben in Vorbereitungszeiten für den Nachhall einer Zivilisation, die sich irgendwann keinen Rat mehr wusste, trotz ihrer großartigen Anlagen. Was blieb und sich fortpflanzt, ist die Kultur der Anlageberatung.

Neunzig Minuten dauert die Aufführung. Das Psychogramm einer Panik. Raffiniert verrätselt Richter die Situation. Was ist wahr, was schon Wahn? Zeigen die Überwachungskameras die Wirklichkeit oder läuft ein horrorinspiriertes Computerprogramm ab? Tote vorm Rathaus, aber es gibt doch gar kein Rathaus ... Vincent Redetzki spielt den Jungen in der Familie, aufsässig das Parkett bespuckend, »jaulend« rutschen die Turnschuhsohlen darüber hinweg. Was treibt er nachts? Jagen er und andere nach dem Code, der das Tor denen öffnet, von denen Heiner Müller sagte, sie holten die Erste Welt heim in die Dritte, »wenn sie mit dem Messer in euren Schlafzimmern steht, werdet ihr die Wahrheit wissen«.

Die Selektion, die den Begüterten die Welt retten soll, vernichtet, worauf man einzig zu bauen hofft: die Familie. In der Laienspielgruppe der Siedlung wurde der Frau ein Satz aus ihrem Text gestrichen – grandios, wie die Beglau daraus eine fanatisch überdrehte Selbstanfeuerungsrede macht. Da krampft ein Mensch, sich gerechtfertigt zu fühlen, und er muss, weil ihm alle Wesentlichkeiten fehlen, weil sein Eigensinn verrottete, weil er unfähig ist für sich selber, die Streichung eines blöden Laienspiel-Satzes zur Grundfrage hochjagen. So jämmerlich lebensrettend: dies zentrumsgierige Plustern auf Nebenschauplätzen; dieser infantile Eifer, wichtig und beschäftigt zu scheinen.

Eine gespenstische Momentaufnahme aus der Kälte einer verdorbenen Zukunft.

Nächste Aufführung: 12.11.

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