Es gibt eine Partnerschaft von Wanderzirkus und Weihe, und es gibt Filme, die mischen gleichsam die Sägespäne der Manege mit dem Sternenstaub des Mythischen: Das schillernde Gleichnis bittet das graue Gleichmaß des Alltags zum Tanz. So hat es Defa-Regisseur Siegfried Kühn versucht, immer wieder.
Ein Gesicht, ein Mann, und schon ist beinahe eine gesamtkünstlerische Konfession erfasst: Die Rede geht vom grandiosen Schauspieler Fritz Marquardt[1]. Titelgestalt im Defa-Film »Das zweite Leben des Friedrich Wilhelm Georg Platow« (1973). Ein Schrankenwärter verliert durch den Einsatz moderner Signaltechnik seinen Arbeitsplatz und wird zum komischen, knurrigen, kindlichen, kantigen Don Quichote. Marquardt: geheimnisvoll-plebejisch, schelmisch-umdüstert; ein Buster Keaton der vertrackten, schön unheiligen Einfalt. Dem nichts geschehen kann, auch wenn ihm alles zustößt. Das Streckenhäuschen von Platow wird von jungen Leuten verwüstet, der Alte selbst sitzt unbeachtet am Rande, wie gar nicht anwesend, wie gar nicht lebend. Am Ende trotzt er mit einer Draisine dem Fortschritt, der immer auch ein Abstellgleis ist.
So traurig die Geschichte anmutet, es bleibt eine andere Wahrheit: Die glücklichste und geistvollste Erfindung menschlicher Entdeckungskunst ist der trotzige Witz. Kühns Film entging knapp einem Verbot, nur wenige Kopien, abgedrängt in Studiokinos, ohne offizielle Premiere, belegt mit Rezensions- und Exportverbot. Ein von der Obrigkeit ungeliebter quasi nur versteckt präsentierter Streifen. Weil er das Bild der Arbeiterklasse angeblich satirisch verzerrte.
Platow wie Marquardt wie Kühn: Da nimmt sich einer Zeit – die doch nie so ist, dass er hineinpasste. Er stört, er stockt. Das ist sie, die Radikalität der inneren Unverpflanzbarkeit. Da steht ein Mensch in jeder Landschaft so, dass diese Gegend sich ab einem bestimmten Punkt falsch vorkommt. In den Argumenten von Platows Schweigen – das im Film gewissermaßen Bild wurde! – konnte man sich verlaufen wie in einem dichten, tiefen Wald. Tief und bisweilen natürlich kühl. Platow wie Marquardt wie Kühn: Ein Mensch, ganz bei sich. Also allein. Einsam nicht, denn da hat einer seine Erfahrung, und ihr vertraut er.
Wenn man an Gesichter in Kühns Filmen denkt, dann auch an Heidemarie Wenzel, Hauptdarstellerin in »Zeit der Störche« (1971) nach dem Roman von Herbert Otto. Noch jedes ernste Bild von ihr strahlte etwas reizvoll Helles und Umgarnendes aus. Sie verkörperte das zurückhaltend Elegische, dessen nahe Verwandtschaft Geheimnis und Gefahr sind. Oder Hilmar Thate in »Don Juan – Karl-Liebknecht-Str. 78« (1980). Ein Opernregisseur im Zerrfeld von patriarchaler Anmaßung und künstlerischem Trieb; das Ich als Kampffeld der Egoismen. Die Oper: übrigens der wahre, unerfüllt gebliebene Traumort des Filmemachers.
Der Schlesier, geboren 1935 in Breslau, arbeitete zunächst als Bergbauingenieur. Regie studierte er in Babelsberg und in Moskau, bei Großmeistern: Sergei Gerassimow, Michail Romm, Grigori Tschuchrai. Mit seinen Defa-Filmen (»Der Traum vom Elch«, »Wahlverwandtschaften«, »Die Schauspielerin«[2], »Heute sterben immer nur die andern«) war Kühn nie der Typ des Verkäufers, er war kein Anbieter, er inszenierte im Rhythmus, nicht im Takt. Er liebte technische Experimente, spielte filmisch mit Farben, blieb in allem, was er begann, ein Künstler im »Nebendraußen« (Hermann Lenz). Und da war stets auch ein Hauch skurriler Verstiegenheit.
»Kindheit« (1987) heißt einer seiner Filme. Eine Bäuerin flieht den Hof, hin zu einem – Wanderzirkus. Da ist sie wieder, jene Sehnsucht, sich loszulösen aus dem Knäuel der verengenden Dinge. Nach dem Ende der Defa das absehbare Ende der Dreh-Zeit. Nun der Weg ins Schreiben. Soeben erschien bei Eulenspiegel der Erzählungsband »Mein herzzerreißender Feind«. Zuvor das autobiografisch irrlichternde Buch »Die Erdorgel oder Wunderbare abgründige Welt«[3] – auch hier die Rückkehr zu einem Ursprung. Bergwerke und der Zauber des Untergründigen: »Soll ich dir das Wesen zeigen, musst du in die Tiefe steigen.« Heute wird Siegfried Kühn 90 Jahre alt.