Arche Noah im Nutztierland

Auf dem Hagelhof finden jene Tiere ein Gnadenbrot, die zu alt sind oder keiner mehr haben will

  • Volker Stahl
  • Lesedauer: 5 Min.
Todgeweihte Hunde, ausgesetzte Katzen, blinde Pferde oder halb erfrorene Leguane finden bei Barbara Deppe ein neues Zuhause. Auf dem Hagelhof im niedersächsischen Löningen leben 500 Tiere, die keiner mehr haben will. Weil die Spendenbereitschaft in den Zeiten von Hartz IV nachlässt, ist das Projekt gefährdet.
Die »Familie« auf Barbara Deppes Bauernhof zählt viele hundert Köpfe. Besucher müssen nicht nur mit freilaufenden Katzen und Hunden rechnen.
Die »Familie« auf Barbara Deppes Bauernhof zählt viele hundert Köpfe. Besucher müssen nicht nur mit freilaufenden Katzen und Hunden rechnen.

Rudi Fleck ist ein typischer Bewohner des Tierasyls. Ein Hamburger Ehepaar mit einem kleinen Hof hatte sich das kleine Hängebauchschwein angeschafft – ohne einen Gedanken an artgerechte Haltung zu verschwenden. Aus dem kleinen Ferkel Rudi wurde bald der 100 Kilo schwere Eber Rudolf. »Er war nicht kastriert und begann, die Leute anzugreifen«, erzählt Barbara Deppe, »schließlich hat Rudolf ein Pony adoptiert und keinen mehr an seinen Schützling herangelassen.«

Ein Fall für den Hagelhof. Die Tierschützerin ließ das großstadtgeschädigte Tier kastrieren und steckte es in das Schweinegehege: »Dort wurde Rudi schnell resozialisiert.« Für Rettungstaten dieser Art feiern Frauenzeitschriften die 42-Jährige schon Mal als »Engel der traurigen Tiere«. Der Hagelhof ist ein alter Bauernhof zwischen Cloppenburg und Meppen, den die gelernte Tierarzthelferin vor zwölf Jahren mit dem Geld ihrer Eltern (»mein vorzeitig ausgezahltes Erbe«) erworben hat.

Das Gehöft ist so etwas wie eine Arche Noah mitten im Nutztierland. Zwischen Cloppenburg, Friesoythe und Lastrup – Mastbetriebe und Legebatterien, wo man hinschaut. »Gülleland pur. Man kann im Sommer hinfahren, wohin man will – im Oldenburger Münsterland stinkt es überall zum Himmel«, sagt ein Bewohner dieses Landstrichs, der lieber anonym bleiben möchte. Die zierliche Betreiberin des Gnadenhofes gilt in diesem Landstrich als Exotin. »Menschen, die Tiere als Ware betrachten«, weiß Deppe, »finden das, was ich mache, leicht verrückt.« Es gebe aber auch vor Ort ein paar Menschen, die ihr Engagement unterstützen.

Sylvia Schwinge zum Beispiel. Die Nachbarin ist Mitglied im gemeinnützigen Verein Hagelhof und gestaltet ehrenamtlich die Homepage. Zurzeit leben mehr als 500 Tiere auf dem sieben Hektar großen Gelände und in dem alten Bauernhaus, das die Tierschützerin zusammen mit ihren Töchtern Thora (17) und Ylva (15) bewohnt. Die meisten Tiere – darunter Schafe, Straußenvögel, Schlangen und Vogelspinnen – haben einen Namen. Der Nandu heißt Gigi, die 37-jährige Oma-Stute Melissa und das Krokodil Herr Schmidt. Nur Meerschweinchen, Hühner und Kaninchen sind nicht »getauft«.

Spendengelder fließen nur spärlich
Im Garten vor dem Haus leben Enten, Gänse und Schildkröten in friedlicher Koexistenz. Einen Steinwurf vom 75 Quadratmeter großen Krokodil-Haus entfernt grasen Schafe, gurren Tauben und spreizen Pfauen ihr prachtvolles Gefieder. Nebenan wiehert der blinde Wallach Silas auf der Weide. Sekunden später trottet Paula (8) um die Ecke. Die anhängliche Ziege stammt aus einem Zirkusbetrieb, wo sie nach der Geburt ins Stroh geworfen wurde und später an die Löwen verfüttert werden sollte. »Ich bin ihre Mama«, sagt Barbara Deppe, die das Tier mit der Flasche aufgezogen hat. Besonders ans Herz gewachsen ist ihr die Gans Waltraut, mit der sie seit 23 Jahren zusammenlebt.

Trauriger ist die Geschichte, die die Betreiberin des Tierasyls von der Schäferhündin Asta (14) zu erzählen hat: »Sie vegetierte in einem Zwinger, leidet unter Arthrose und benötigt viele Medikamente.« Als dem Besitzer die Tierarztrechnungen zu teuer wurden, wollte er Asta einschläfern lassen. Der Doktor griff zum Telefonhörer, und die barmherzige Barbara hatte eine neue Bewohnerin auf ihrem Hagelhof, wo derzeit zehn Hunde und 25 Katzen leben oder auf ein neues Herrchen oder Frauchen warten – viele vergebens.

Vermittelbar ist der elegante Kater, der auf den schönen nordischen Namen Volker hört. Keine Chance dürfte Heinz haben, der gerade über den Flur humpelt. Ein Mensch hat ihn getreten. Seitdem ist der Nerv im linken Vorderlauf kaputt, was eine verkürzte Sehne und ein gelähmtes Bein zur Folge hat. Ein typisches Tierschicksal, das auf dem Hagelhof eine Wende zum Besseren nahm.

Die Versorgung der Tiere kostet viel Zeit und Geld. »Weil immer mehr Dauerspender abspringen, leben wir von der Hand in den Mund«, klagt Barbara Deppe. 3000 bis 4000 Euro monatlich, darunter 800 Euro Heizkosten, benötigt sie zur Grundfinanzierung. Die wird zurzeit von 250 Spendern getragen. Als 2005 ein insolvent gegangener Tierschutzverein seine monatlichen Zahlungen von 1500 Euro schlagartig einstellte, drohte der Hof unterzugehen. Erst der medienwirksame Einzug der ausrangierten Tiere in das »Big-Brother«-Dorf Anfang 2006 rettete den Hagelhof. Neue Spender kamen hinzu. »Jetzt bröckelt es leider wieder«, sagt die Tierschützerin. Im Internet hat sie gerade einen Aufruf zur Renovierung des zusammengekrachten Stalls gestartet, der den Rindern als Winterquartier dient. 2900 Euro kostet die Reparaturmaßnahme. Der aktuelle Spendenticker vermeldet 1542 Euro.

Ans Aufgeben hat die zweifache Mutter und 500-fache Adoptivmama noch nie gedacht: »Ich verstehe mich als Lebewesenschützerin.« Barbara Deppe ist seit 24 Jahren Vegetarierin. Aus ethischen Gründen beschloss sie mit 18, kein Fleisch mehr zu essen: »Ich wollte die Massentierhaltung nicht mehr unterstützen.« In dieser Zeit wuchs auch der Wunsch in ihr, irgendwann einen Gnadenhof zu gründen: »Ich wollte Tiere, die für den Teller bestimmt waren oder die keiner mehr haben wollte, aufnehmen.« Die Tiere sollten um ihrer Willen leben: »Tiere wie Gänse und Enten haben in unserer Gesellschaft keine Lebensberechtigung.« Die Bezeichnungen »dummes Huhn, dumme Gans« beinhalte ja bereits die Geringschätzung, sagt Deppe, »dabei sind sie charakterlich sehr unterschiedlich«. 1995 kam sie mit 30 Tieren aus dem 200 Kilometer entfernten Ruhrpott, wo sie vor 23 Jahren die heute noch existierende Tierhilfe Bochum e.V. gründet hatte. Im Lauf der Zeit wurden es immer mehr Hilfsbedürftige. Mal brachte jemand ein aus einem Mastbetrieb befreites Schwein vorbei, mal ein ausrangiertes Reitpferd: »Viele Tiere kommen hierher, um zu sterben.«

Erst streicheln, dann essen, das geht nicht
Morgens um 6.30 Uhr steht Barbara Deppe auf. Im Sommer endet ihr arbeitsreicher Tag um 23 Uhr, im Winter drei Stunden früher. Ihr eigenes Leben und das ihrer Töchter finanziert sie mit Unterhaltszahlungen ihres Ex-Mannes und einem Teilzeitjob als Tierarzthelferin, in dem sie zwölf Stunden an zwei Nachmittagen arbeitet: »In dieser Zeit vertritt mich Ylva.« Doch weder Ylva noch Thora können sich vorstellen, den Hof ihrer Mutter dereinst zu übernehmen. »Nach dem Abitur sind wir weg hier«, sagen sie unisono. Einschlägig vorgeprägt sind die beiden Teenager dennoch: Thora hat seit ihrem sechsten, Ylva seit ihrem vierten Lebensjahr keinen Bissen Fleisch mehr herunterbekommen. Verboten hat die Mutter das Fleischessen nicht. Beide Mädchen haben ihre Entscheidung selbst getroffen. »Erst streicheln, dann essen – das geht einfach nicht«, sagt Thora.

Kontakt: Hagelhof e.V., Löninger Straße 29, 49624 Löningen, OT Bunnen, Tel. (05434) 924 97 94, www.hagelhof.de
Spendenkonto: Postbank Dortmund, BLZ: 440 100 46, Konto 238 06 74 60

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