nd-aktuell.de / 22.04.2025 / Kultur / Seite 1

»goEast«-Filmfestival: Aliens im Plattenbau

Zum 25. Mal blickt das »goEast«-Filmfestival in Wiesbaden nach Mittel- und Osteuropa

Norma Schneider
Himmlisch geht es zu in »Eight Postcards from Utopia«, obwohl der Film wilden Kapitalismus anklagt.
Himmlisch geht es zu in »Eight Postcards from Utopia«, obwohl der Film wilden Kapitalismus anklagt.

Aliens landen mitten in einer Plattenbausiedlung in Estland, was den Alltag der Bewohner*innen erwartungsgemäß ziemlich durcheinanderbringt. Die Invasion aus dem All empfinden sie nicht unbedingt als bedrohlich, sondern sehen sie pragmatisch als Chance, dem tristen, oftmals harten Alltagsleben zu entfliehen. Jede Veränderung ist hier auch Hoffnung auf eine bessere Zukunft. »The Black Hole« heißt die feministische Science-Fiction-Komödie von Regisseurin Moonika Siimets. Darin stehen aber weniger die Außerirdischen im Zentrum: »Es ist zwar ein Science-Fiction-Film, aber für mich handelt er von Menschen und ihren alltäglichen Kämpfen und Sehnsüchten«, so die Regisseurin in einem Interview mit Cineeuropa. Der beim diesjährigen »goEast«-Filmfestival zu sehende Streifen zeigt Siimets großes Gespür für die Schönheit des Absurden.

Absurdes findet sich auch in »Eight Postcards from Utopia«, dem neuen Film des gefeierten rumänischen Regisseurs Radu Jude, den er zusammen mit dem Philosophen Christian Ferencz-Flatz kompiliert hat. Der Film besteht zur Gänze aus Found Footage, also fremdem Material, zum Beispiel aus Archiven.

Die Kunst ist hier die Auswahl und Collage. Die Macher bedienten sich unter anderem bei Werbefilmen aus den 90er Jahren, als nach dem Fall der sozialistischen Republik unter Diktator Ceaușescu der Kapitalismus rasant in Rumänien Einzug hielt. In den überdrehten, oft seltsam philosophisch aufgeladenen Filmchen spiegelt sich der Wandel einer Gesellschaft und ihre Hinwendung zur Konsumkultur. Radu Jude ist bekannt für seine experimentellen, überraschenden und provozierenden Arbeiten, mit denen er der rumänischen Gesellschaft auf den Zahn fühlt. Nicht selten ist Faschismus dabei Thema, aber auch einen Film über den US-amerikanischen Pop-Art-Künstler Andy Warhol hat er schon gemacht.

Visuell beeindruckend ist der komplett im quadratischen Format gedrehte Film »Windless« des bulgarischen Regisseurs Pavel G. Vesnakov. Nach dem Tod seines Vaters kehrt Koko (gespielt von Rapper FYRE) in sein Heimatdorf zurück, um die nun leerstehende Wohnung zu verkaufen. Was Koko als lästige, schnell zu erledigende Aufgabe erschien, entwickelt sich zu einer Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit, Kindheitstraumata inklusive.

Absurdes verbindet sich mit Amüsantem und auch mit gesellschaftlichen Anklagen.

Das ungewöhnliche Format des Films spiegelt die Enge und Unausweichlichkeit wider, mit der Koko im Dorf konfrontiert ist: »Wohin er sich auch wendet, überall lauern unterdrückte Emotionen, eine Erinnerung oder einfach nur das plötzliche Gefühl, etwas verloren zu haben ... Er kann sich nirgendwo verstecken und auch nicht davonlaufen«, so Regisseur Vesnakov. Trotz des engen Fokus auf die Hauptfigur weist der Film immer wieder über die persönliche Ebene hinaus auf gesellschaftliche Strukturen und Probleme und gibt so einen interessanten Einblick in bulgarischen Alltag.

Unter den Dokumentarfilmen im Wettbewerb sticht »Everything Needs To Live« von Tetiana Dorodnitsyna und Andrii Lytvynenko heraus. Es ist das Porträt einer Ukrainerin, die zwar Hunderttausende Follower*innen in den sozialen Medien hat, aber hierzulande nahezu unbekannt sein dürfe: Anna Kurkurina ist Weltmeisterin im Kraftdreikampf, Tierschutz-Aktivistin und stolze Butch-Lesbe. Im Film erzählt die 58-Jährige von Vorurteilen, mit denen sie in ihrer Sportlerin-Karriere konfrontiert wurde. »Du hast dich in einen Jungen verwandelt«, habe man ihr gesagt. »Dabei bin ich doch eine Frau, eine Lesbe halt.«

Seit Jahren engagiert sich Kurkurina für Tiere in Not – aktuell kümmert sie sich um im Krieg in ihrer Heimat verletzte und zurückgelassene Tiere. Der Film zeigt bedrückende Bilder, doch Kurkurinas Stärke, Optimismus und Humor zu bewahren, lassen den Film nicht düster werden.

Kurzum: Scheinbar Absurdes verbindet sich mit Amüsantem und auch mit gesellschaftlichen Anklagen auf diesem Jubiläumsfestival.

»goEast« Filmfestival, vom 23. bis 29. April in Wiesbaden, einzelne Filmvorführungen außerdem in Mainz, Gießen, Darmstadt und Frankfurt/; vom 1. bis 8. Mai kann online gestreamt werden: online.filmfestival-goeast.de[1]

Links:

  1. http://online.filmfestival-goeast.de