Für viele indigene Familien im südmexikanischen Chiapas ist es ein sehr lustiges Bild, das sich in ihre Erinnerungen eingebrannt hat: junge Menschen aus Europa, Latein- und Nordamerika, die mit ihren schweren Rucksäcken durch den Schlamm stapfen und stecken bleiben. Die mit großer Geduld mit den Kindern balgen und ihnen spielerisch das Schreiben beibringen. Von denen sogar Männer kochen, aber kein Holz hacken können. Sie alle waren und sind Teil eines besonderen Experiments der internationalen Solidarität: der zivilen Friedensbrigaden, die seit 1995 autonome Gemeinden in Chiapas begleiten.
Seit drei Jahrzehnten laden organisierte Gemeinden aus Chiapas internationale Aktivist*innen dazu ein, als Menschenrechtsbeobachter*innen für einige Wochen in ihre Dörfer zu kommen. Ihre simple Präsenz führt dazu, dass staatliche Akteure weniger gewaltvoll gegen die widerständigen Gemeinden und Organisationen vorgehen. Klappt das nicht, dokumentieren die »Brigadistas« die Menschenrechtsverletzungen[1]. So können diese später rechtlich verfolgt werden. Das Projekt der Bricos (Brigadas Civiles de Observación), organisiert vom bekannten Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas (Frayba), feiert dieses Jahr seinen 30. Geburtstag. Doch die zunehmende Gewalt der organisierten Kriminalität in Chiapas setzt das Projekt unter Druck.
Der vergessene und periphere Bundesstaat Chiapas wurde 1994 schlagartig weltweit bekannt, als eine bis dahin unbekannte Guerilla den Aufstand gegen die mexikanische Regierung probte – und dies im damals noch neuen Internet selbst verkündete. Die EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung) forderte die Anerkennung indigener Rechte, Autonomie und ein Ende der neoliberalen Politik, die zunehmend Land und Ressourcen in Chiapas ausbeutete. Dafür besetzten sie kurzfristig sieben Kreisstädte und langfristig tausende Hektar Land. Ihre Art sich mitzuteilen und globale Probleme beim Namen zu nennen, traf Anfang der 90er, nicht lange nach der Auflösung der Sowjetunion, einen Nerv einer sich global neu orientierenden Linken. Neugierig und solidarisch blickte man auch von Deutschland aus über den Atlantik und horchte. Hier, in Ost und West, bestanden noch immer einige solidarische Komitees, die linke Bewegungen in den lateinamerikanischen Ländern von Chile bis Guatemala unterstützt hatten.
Als die Zapatistas in den auf den Aufstand folgenden Monaten und Jahren immer stärker vom mexikanischen Staat angegriffen wurden, lag es für viele Aktivist*innen nahe, die sympathische Bewegung auch ganz praktisch zu unterstützen. In Gruppen oder auch individuell reisten zahlreiche Personen nach Chiapas und landeten in San Cristóbal de Las Casas, einer damals noch kleinen, verschlafenen Stadt im Hochland.
»So ist das Leben in unseren Gemeinden. Erst wird gelacht, weil danach geholfen wird.«
José Manuél Hernández
Gemeindemitglied aus Taniperla
»Plötzlich war hier in San Cristóbal die Hölle los«, erinnert sich Rosa Rodriguez vom Menschenrechtszentrum Frayba. »Es passierte so vieles gleichzeitig.« 1994 und 1995 fanden in Chiapas die Friedensverhandlungen zwischen der EZLN und der mexikanischen Regierung statt. Eigentlich ein vielversprechender Moment, denn noch nie waren die indigenen Stimmen so präsent in den nationalen Medien. Gleichzeitig gab es immer wieder Angriffe von Militärs und später auch Paramilitärs auf die Zapatistas und indigene Gemeinden, die sich nicht von der EZLN distanziert hatten. Die Mitarbeiter*innen des Menschenrechtszentrums und zahlreicher anderer NGOs eilten in diesen Jahren täglich auf Schotterpisten und Feldwegen durch den bergigen Bundesstaat. Das Straßennetz war damals noch nicht asphaltiert, niemand hatte ein Handy, geschweige GPS. Sie leisteten humanitäre Hilfe und dokumentierten gleichzeitig die schweren Verbrechen des Militärs: verbrannte Häuser, verschwundene Menschen. In einigen Regionen warf das mexikanische Militär sogar Bomben.
Es gab viel zu tun. Rosa erzählt weiter: »Und dann kamen ständig diese Leute aus den verschiedensten Ländern und auch aus anderen Teilen Mexikos hierher, wollten die EZLN unterstützen, wussten aber oft nicht wie. So kam eines zum anderen.«
Inmitten der Gewalt bauten verschiedene lokale Organisationen, unter ihnen auch Frayba, 1995 die ersten Zivilen Friedenscamps auf, in zapatistischen Dörfern, Flüchlingslagern und anderweitig autonom organisierten Gemeinden. Da die NGOs total ausgelastet waren, sollten die Aktivist*innen in die entlegenen Dörfer fahren, für eine Weile die Lage dort dokumentieren und nach einigen Wochen wieder Bericht in San Cristóbal erstatten.
Was am Anfang improvisiert war, wurde mit der Zeit immer strukturierter. In zahlreichen Ländern gründeten sich Vorbereitungskollektive, die aktiv Beobachter*innen anwarben. Die Freiwilligen erhielten ein weiteres Briefing in San Cristóbal sowie ein Schreiben vom Bischof, für den Fall, dass sie an den zahlreichen Militärkontrollen nicht vorbeikommen sollten. Dann ging es in kleinen Gruppen los, für 14 Tage in die »Selva«, die Wälder und Berge.
Die meisten Dörfer lagen fern der holprigen Straßen und waren erst nach stundenlangen Märschen zu erreichen. José Manuél Hernández aus Taniperla lacht, wenn er an damals denkt. Die Aktivist*innen brauchten immer doppelt so lang wie sie als Kinder. »Sie kamen mit ihren Gummistiefeln und blieben im Schlamm stecken.« Darüber wurde natürlich herzlich gelacht. »Das hat manche geärgert. Aber so ist das Leben in unseren Gemeinden. Erst wird gelacht, weil danach geholfen wird.«
In den Dörfern leben die Brigadistas in der Regel für zwei Wochen, manchmal im Haus einer Familie, manchmal in einem eigenen Häuschen. Es waren schwierige Zeiten, Soldaten kamen oftmals ohne Ankündigung in die Gemeinden, durchsuchten Häuser, stahlen Tiere. Mit den neuen paramilitärischen Gruppen nahm die Gewalt noch zu. Das Massaker von Acteal, bei dem 1997 in einem Flüchtlingscamp der pazifistischen Organisation Las Abejas 45 indigene Menschen während des Gebets ermordet wurden, verbreitete Angst in ganz Chiapas. »Sie sagten, dass sie uns vor den Militärs schützen würden, und irgendwas mit Menschenrechten.« José Manuél war damals acht Jahre alt und spielte als Kind gerne mit dem internationalen Besuch. »Ich verstand nicht, wie. Dachte aber: Wie gut, dass sie uns verteidigen würden.«
Über die Jahre hinweg konnte Frayba beobachten, dass die Drohungen und Übergriffe in den Gemeinden mit einem Beobachtungscamp schwächer ausfielen und zurückgingen. »Der mexikanische Staat hat international einen Ruf zu verlieren, da ist es hinderlich, wenn Soldaten dabei gefilmt werden, wie sie indigene Menschen einschüchtern oder angreifen«, erklärt Rosa, die das Projekt von Frayba maßgeblich mitgestaltet hat.
Für viele Gemeinden spielt neben dem Schutz jedoch auch das Soziale einen wichtigen Aspekt. In Acteal wurde nach dem Massaker ein »Campamento« aufgebaut, das bis heute besteht. Die Organisation baute für die Beobachter*innen vergangenes Jahr sogar eine neue Unterkunft. María Vázques Gómez ist Überlebende des Massakers von 1997 und freut sich immer, wenn die Campamentistas kommen: »Ich esse gerne mit ihnen, auch wenn sie mich nicht verstehen. Wir haben ja keine Familie mehr, und viele hier sind besorgt über die Zukunft. Aber wenn sie da sind, wird mein Herz ruhig.« María versteht Spanisch gut, spricht die Sprache der »Caxlanes«, der »weißen Städter«, aber ungern. Stattdessen redet sie in ihrer Sprache, Tsostil, mit den Aktivist*innen. Irgendwie klappt es meistens.
Das Leben in den Gemeinden ist bis heute ein beidseitiger Lernprozess. Sein Leben heute wäre ohne die Brigadistas nicht dasselbe gewesen, berichtete auch José Manuél. Die Lehrer in seiner Schule waren gewalttätig und ungeduldig. Beim Hausaufgabenmachen mit den Beobachter*innen erkannte er, dass Lernen auch Spaß machen kann. Jahre später verließ er sein Dorf, um zu studieren.
Für die Freiwilligen ist es oft eine prägende Erfahrung zu sehen, wie die Menschen aus den indigenen Gemeinschaften trotz widrigster Umstände ihre Autonomie verteidigen. Ehemalige Freiwillige berichten, dass sie selbst viel durch ihren Einsatz lernten – sei es durch das Teilen des Alltags, die Arbeit in der Landwirtschaft oder die gelebte Selbstverwaltung in zapatistischen Gemeinden. Viele zeigen sich beeindruckt von der Disziplin, die nötig ist für den langjährigen Widerstand und die gelebte Autonomie.
Trotzdem lief nicht immer alles rund. Manchen Freiwilligen fällt es schwer, sich an die Begebenheiten vor Ort anzupassen. Besonders die Geschlechternormen sind bis heute regelmäßig Thema, auf beiden Seiten. Wo es keine Duschen gibt, baden die Menschen im Fluss. Bikinis, FKK, oder knappe Kleidung sind jedoch alles andere als üblich in den ländlichen Gemeinden, was nicht nur dazu führt, dass sich Mitglieder der begleiteten Gemeinde wundern oder empören. Im Falle von Taniperla sowie in der zapatistischen Gemeinde La Realidad nutzten feindliche Nachbargemeinden diese Ereignisse, um die Brigadistas zu diskreditieren. »Am Ende ist es Machismo«, resümiert José Manuél, der selbst die konservativen Haltungen in seiner Gemeinde sehr kritisiert, aber es kann eben auch Konflikte verschärfen.
Um solche Situationen zu vermeiden, entwickelte Frayba ein eigenes Regelwerk, das nicht nur Hinweise auf eine angemessene Kleidung gibt. Es beinhaltet, wie man sich bei Militärkontrollen verhält und welche Aufgaben in die Beobachtung und Solidaritätsarbeit fallen und welche nicht. Außerdem schuf das Zentrum die Comunidad Frayba, ein Netzwerk von aktuell 30 mexikanischen und internationalen Kollektiven und Organisationen, die in ihren jeweiligen Ländern Vorbereitungsseminare und Informationsveranstaltungen durchführen. Zum einen sollen die Teilnehmenden wissen, worauf sie sich einlassen, zum anderen dient diese Struktur im Notfall auch der Sicherheit.
Das Konzept der Abschreckung funktioniert bis zu einem gewissen Grad der Drohungen und Gewalt. Ist dieser überschritten, ergibt die Präsenz der Beobachter*innen keinen Sinn mehr und andere Maßnahmen müssen ergriffen werden. Diesen Punkt rechtzeitig zu erkennen, ist für das Menschenrechtszentrum entscheidend.
Nach einigen nicht ganz so turbulenten Jahren hat die Gewalt in Chiapas in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Seit 2021 gab es wieder offene bewaffnete Auseinandersetzungen. Diesmal geht es nicht primär um die Zapatistas. Vorrangig konkurrieren zwei große Drogenkartelle untereinander um die Kontrolle des Territoriums. Auf lokaler Ebene paktieren diese jedoch mit kleineren bewaffneten Organisationen, die meist ein regionales Interesse an Land haben. Dabei handelt es sich allerdings immer wieder um die »Erben des Paramilitarismus« aus den 90er Jahren, wie Frayba im jüngsten Jahresbericht[2] schreibt. Dies ist eine große Bedrohung für die autonom organisierten Gemeinden in Chiapas.
Für das Projekt der Menschenrechtsbeobachtung ist diese Entwicklung in mehrerlei Hinsicht problematisch. Eskalieren punktuelle Auseinandersetzungen auf der Strecke in die begleiteten Gemeinden, können die Brigaden gar nicht in die oder aus der Gemeinde zurück nach San Cristóbal fahren. Ein größeres Problem ist allerdings, dass die abschreckende Wirkung gegenüber Akteuren, die nicht wie Beamte, Soldaten oder Paramilitärs unter der Kontrolle des Staates stehen, nicht funktioniert. Im Gegensatz zu staatlichen Vertretern haben die Kartelle keinen Ruf zu verlieren. Frayba musste die Sicherheitsvorkehrungen für die Beobachter*innen anpassen. Sie dokumentieren weiterhin Menschenrechtsverletzungen, können sich aber nicht mehr so offen zeigen, wie es in den vergangenen Jahren der Fall war.
Der neue Gouverneur, Eduardo Ramirez Aguilar[3], hat seit Amtsantritt eine neue Militärpolizei namens Pakal in Chiapas eingeführt, die den Bundesstaat mit harter Hand kontrolliert. Aktuell gibt es keine Straßenkontrollen der organisierten Kriminalität mehr und auch die bewaffneten Auseinandersetzungen sind stark zurückgegangen. Das Team von Frayba traut dem Frieden jedoch nicht. Die Gefängnisse sind maximal überbelegt und erste Anzeichen verdichten sich, dass es sich überwiegend um willkürliche Festnahmen junger indigener Männer handelt. Das Menschenrechtszentrum befürchtet außerdem, dass auch mit dem jüngst angekündigten Bau einer Autobahn von San Cristóbal bis Palenque eine neue Welle der Repression gegen indigene Umweltschützer*innen hereinbrechen könnte. Besonders die zivile Organisation Modevite formiert sich bereits zum Protest, während der Bau schon begonnen hat.
Derzeit reisen jährlich etwa 30 Freiwillige allein aus Deutschland nach Chiapas. Obwohl es nur zwei Beobachtungscamps gibt, kommen insgesamt zu wenig Beobachter*innen nach Chiapas. Besonders die aktuellen Entwicklungen zeigen, dass das Konzept der Brigaden kein Auslaufmodell ist.