Mit Stand vom Freitag hat Israels Krieg in Gaza[1] offiziell 52 418 Menschen gekostet. Herausgegeben und täglich aktualisiert wird die Statistik vom palästinensischen Gesundheitsministerium. In vielen Medien erscheint sie hingegen als »Angabe der Hamas«, oftmals mit dem Zusatz, dass man diese nicht nachprüfen könne. Mit Verweis auf deren vermeintliche Unglaubwürdigkeit berichten manche Medien auch gar nicht über diese offiziellen Todeszahlen. Zu Recht?
Wer sich auf die Suche nach dem Ursprung der Erzählung von den unglaubwürdigen »Hamas-Angaben« macht, erlebt zunächst eine Überraschung. Die Formulierung existierte vor dem 7. Oktober 2023 so gut wie nicht – und das, obwohl die Hamas bereits 2007 die Verwaltung des Gazastreifens innehatte. Im »nd«, in der »Tagesschau«, selbst in der »Bild« sprachen Journalist*innen ganz selbstverständlich von »palästinensischen Angaben« oder »Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums«, wenn sie über die Opfer israelischer Angriffe im Gazastreifen[2] berichteten. Oftmals ließen sie die Quellenangabe sogar gleich ganz weg, ganz so, als handle es sich bei den Todeszahlen aus Gaza um gesicherte, zumindest aber verlässliche Fakten.
Das einstige Vertrauen in die offiziellen Todeszahlen aus Gaza lässt sich einfach erklären: Sie hatten sich stets als verlässlich erwiesen. Abweichungen zu später erhobenen Zahlen durch das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten lagen stets im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Nichtregierungsorganisationen nutzten die Zahlen deshalb genauso bedenkenlos wie westliche Regierungen und ihre internationalen Organisationen.
Der Grund, warum auf die Zahlen aus Gaza seit Jahren Verlass ist: Sie werden von einem Verwaltungsapparat zusammengestellt und herausgegeben, der sich nur unwesentlich von dem anderer arabischer oder westlicher Länder unterscheidet. Mit dem in westlichen Medien beliebten Klischee des von einer »Terrormiliz« beherrschten Gazastreifens hat der dortige Behördenalltag nichts gemein.
Mehr als 10 000 Getötete werden aktuell im Gazastreifen noch unter den Trümmern vermutet.
Zwar übt auch die Hamas – wie jede Regierungspartei der Welt – Einfluss auf das ihr untergeordnete Ministerium aus. Zu »Hamas-Angaben« werden die Zahlen des Gesundheitsministeriums deshalb aber nicht – es sei denn, man bezeichnet die vom deutschen Bundesgesundheitsministerium jährlich herausgegebene Pflegestatistik als »SPD-Angaben«.
In gewisser Weise führt selbst dieser Vergleich sogar noch zu weit: Denn formell untersteht der Gesundheitsapparat in Gaza nicht einmal der Hamas, sondern der vom Westen anerkannten Regierung von Mahmoud Abbas in Ramallah. Auch dort werden die Zahlen täglich überprüft, denn die Gehälter für Ärzt*innen und Behördenmitarbeiter*innen in Gaza werden aus Ramallah angewiesen.
An der Zuverlässigkeit der Arbeit des palästinensischen Gesundheitsministeriums hat sich mit Ausbruch des aktuellen Krieges nichts geändert. In mehreren Untersuchungen haben Forschende seit dem 7. Oktober 2023 getan, was laut vielen Medienberichten unmöglich sein soll: Sie haben die Todeszahlen aus Gaza unabhängig überprüft. Der Epidemiologe Les Roberts hat sich im März 2025 im Auftrag des »Time-Magazine« alle relevanten Untersuchungen dazu genauer angeschaut. Sein Fazit: »Tatsächlich hat es womöglich noch nie einen größeren Konflikt gegeben, in dem Echtzeitdaten zur Zahl der Todesopfer so vollständig waren wie im aktuellen Krieg in Gaza.« Sogar die israelische Armee nutzt die palästinensischen Zahlen und stuft diese als »insgesamt verlässlich« ein.
Wenn also nicht an der Hamas oder Gazas Gesundheitsministerium, woran liegt es dann, dass deutsche Medien die Todeszahlen regelmäßig in Zweifel ziehen? »Israel führt seit jeher und weiterhin einen endlosen PR-Krieg gegen die Opferzahlen des palästinensischen Gesundheitsministeriums«, sagt dazu Idan Landau. Der Linguistik-Professor an der Ben-Gurion-Universität dokumentiert seit Beginn des Krieges die zahlreichen israelischen Versuche, die Glaubwürdigkeit von Gazas Behörden zu diskreditieren. Seine These wird durch eine Aussage von Israels Außenminister Israel Katz vom Mai letzten Jahres belegt: »Jeder, der sich auf gefälschte Daten einer Terrororganisation stützt, um Blutverleumdungen gegen Israel zu verbreiten, ist antisemitisch und unterstützt den Terrorismus«, erklärte der Likud-Politiker.
Den Kampf gegen die Dokumentation palästinensischer Opferzahlen führen Israel und seine Unterstützer*innen längst nicht nur mit Worten[3]. Schon im November 2023 zerstörten israelische Soldatinnen das Rechenzentrum von Gazas größtem Krankenhaus, der Al-Schifa-Klinik. Dort liefen bis dahin die Sterbemeldungen aller Krankenhäuser des Gazastreifens zusammen. Von den vier Mitarbeitern, die das Rechenzentrum betreuten, starb einer bei einem israelischen Luftangriff auf das Krankenhaus. Die drei anderen wurden von israelischen Soldat*innen verschleppt.
Doch auch unter Belagerung und Bombardierungen fanden Gazas Ärzt*innen und Techniker*innen immer neue Wege, ihre Toten zu dokumentieren und sogar das Computernetz wiederherzustellen, um die zunächst noch intakten Krankenhäuser Gazas wieder miteinander zu verbinden – ein Kampf gegen das Vergessen, der in westlichen Medien so gut wie nicht vorkommt.
Zu der Geschichte über die Todeszahlen aus Gaza gehört aber auch: Sie bilden heute längst nicht mehr das ganze Schrecken des Krieges ab. Mehr als 10 000 Getötete werden aktuell im Gazastreifen noch unter den Trümmern vermutet. Sie tauchen in den Listen des Ministeriums ebenso wenig auf wie die ungezählten Opfer von Hunger und Krankheiten.
Schon im Dezember 2023 nahm eine Untersuchung der internationalen Forschungsgruppe Airwars deshalb an, dass rund ein Viertel mehr Tote als auf den Sterbelisten des Gesundheitsministeriums zu befürchten waren. In einem Offenen Brief, mit dem sich 99 amerikanische Ärzt*innen, die in Gaza tätig waren, im Oktober 2024 an US-Präsident Joe Biden wandten, heißt es sogar: »Es ist wahrscheinlich, dass die Zahl der Toten dieses Konflikts bereits größer ist als 118 908.« Basierend auf Erfahrungen aus früheren Kriegen gehen andere Wissenschaftler*innen mittlerweile davon aus[4], dass die reale Zahl der Toten die offiziellen Angaben um das 3- bis 15-fache übersteigen könnte.
Es stimmt also: Vorsicht im Umgang mit den Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums in Gaza ist angebracht. Aber nicht, weil es Hinweise darauf gibt, dass die Hamas die Zahlen manipuliert und übertreibt. Das schiere Ausmaß von Tod und Zerstörung, das Israels Armee über den Gazastreifen gebracht hat, macht es schlicht unmöglich, die reale Zahl der Toten auch nur annähernd zu dokumentieren. Die beste Grundlage, sich diesem Schrecken zu nähern, sind nach wie vor die Zahlen des palästinensischen Gesundheitsministeriums.
Fabian Goldmann ist freier Journalist und Medienkritiker mit Fokus auf Migrations- und Nahostberichterstattung. Im Herbst erscheint sein Buch über das Versagen deutscher Medien nach dem 7. Oktober 2023.